Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
sichtbarer Beweis dafür, dass es so etwas wie ein perfektes Leben gab. Dass ich dies in meinen Händen halten und betrachten durfte, war wie ein Privileg. Ich war verwandt mit der idealen Familie. Und ich liebte jeden Einzelnen von ihnen bedingungslos.
Ja, und ich liebte sie heute noch.
Die egozentrische Corinne und sogar – sogar – die kaltschnäuzige, überhebliche Beth. Obwohl sie gemein sein konnten. Und obwohl sie Simon gegenüber freundlich taten und über seine Witze lachten, jedoch ganz andere Töne anschlugen, sobald er ihnen den Rücken zugekehrt hatte.
»Dieser Typ ist echt behämmert«, murmelte Corinne, als Simon uns an diesem Nachmittag verließ. »Total bescheuert.«
»Was soll das heißen?« Ich drehte den Kopf, um Corinne in die Augen schauen zu können. »Inwiefern beknackt?«
»Er hat sich letztes Jahr mit Stacy total zum Deppen gemacht«, erklärte Beth. »Er hat ihr gesagt, er liebe sie, obwohl sie es gerade mit seinem Bruder getrieben hatte. Hat der denn überhaupt kein Schamgefühl? Traurig ist das.«
»Kein Schamgefühl«, wiederholte ich leise und bohrte meinen Blick in den von Beth. Und Stacy, die bewusst einen Jungen mit seinem Bruder betrog? Das war eine Schweinerei, selbst wenn sie Simon in Wirklichkeit nicht besonders gemocht hatte! Doch Beth warf einfach meinen Blick zurück. Ihre Augen waren wie zwei spiegelnde Schilde. Simon hatte recht: Sie war hart wie Stahl.
Corinne zuckte mit den Achseln und zündete sich eine Zigarette an. Ich dachte daran, wie Simon erzählt hatte, dass sie nett zu ihm war, wenn sie das Urteil der anderen nicht zu fürchten brauchte. »Es geht darum, Mimi, dass er sich als jemand ausgegeben hat, der er gar nicht war. Er hat so getan, als gehöre er zur High Society, dabei ist er nur der Sohn eines Immobilienmaklers aus Iowa.«
»Minnesota«, verbesserte ich sie.
»Was ja vollkommen in Ordnung ist«, fuhr Corinne fort. »Aber er hat versucht, sich zu etwas Besserem zu machen, als er ist.«
»Und dann hat er diese blöde, absurde Emo-Szene veranstaltet«, fiel Beth ein. »Er ist total ausgeflippt. Was hat der sich eingebildet? Er und Stacy? Es war ein Trauerspiel …« Ihre Stimme wurde leiser, während sie Gen über den Skandal des letzten Jahres aufklärte. »… Irgendwann kann man für so einen Typen nur noch Mitleid empfinden?«, schloss sie mit ihrem typischen, fragenden Tonfall. Doch an den Worten, die sie in der Luft hängen ließ, war nichts Schüchternes.
Sich als jemand ausgegeben, der er gar nicht war … Versucht, sich zu etwas Besserem zu machen, als er ist … Ein heißer, harter Kern des Zorns ballte sich irgendwo tief in meiner Brust zusammen. Alle diese Mädchen hier hatten soeben Simon etwas vorgespielt, nahmen es aber nicht hin, dass er genau dasselbe getan hatte. Dabei hatte er sich nur verstellt, um von ihnen gemocht zu werden. Das war alles so idiotisch! So heuchlerisch!
Das Verrückte war, dass ich noch vor ein paar Minuten tatsächlich geglaubt hatte, sie würden ihn mögen. Und dass er sie auch mögen würde. Vielleicht sogar mehr, als er mich mochte.
Aber jetzt war ich mir nicht mehr sicher, was stimmte und wem ich noch glauben konnte. Sie kamen mir alle wie Schauspieler vor. Vielleicht sogar Simon. Und war ich nicht auch eine Heuchlerin? Schließlich saß ich immer noch bei ihnen, oder?
Ich schluckte. Ich spürte, wie Gen mich ansah, neugierig auf meine Reaktion. »Ich mag Simon«, sagte ich und sah dabei hauptsächlich Beth an, die meinen stählernen Blick mit einem geübten Lächeln erwiderte, das mitfühlend aussah, obwohl es herablassend war. »Ich finde ihn klug und witzig. Und ich habe ihn zu unserer Party eingeladen.«
»Das ist vollkommen in Ordnung!«, sagte Corinne hastig, als ich aufstand. »Wir wollten dir nur klarmachen, dass er unberechenbar ist.«
»Danke für die Information«, erwiderte ich mit steinharter Stimme. »Aber ich kann gut auf mich selbst aufpassen.«
Damit marschierte ich hinunter ans Meer – und warf mich in die Fluten.
Ich erwiderte sein Signal. Zweimal.
Der tiefstehende Vollmond warf lange Strahlen über das Wasser, als ich zu meinem Nachtspaziergang aufbrach. Simons Feuerzeug war dreimal aufgeflammt, kaum dass ich den Strand betreten hatte. Ich tastete in meiner Jackentasche nach der Taschenlampe und wartete einen Moment, bevor ich zweimal blinkte und damit unser Zusammentreffen absagte.
Zum ersten Mal hatte ich Simon signalisiert, dass ich allein sein wollte. Es kam keine
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