Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
Problem«, erwiderte Simon.
Ich wäre so gerne mit ihm schwimmen gegangen, hätte mich gehenlassen, mich ausgezogen und mir nichts daraus gemacht. Irgendwie schien es sogar das Richtige zu sein. Es schien zu dem Wahnsinn und der Hysterie zu passen, die den Abend geprägt hatten.
Aber ich war noch nicht bereit dafür. Obwohl ich vollkommen durcheinander war, war ich mir meiner Grenzen noch bewusst. »Ich sollte jetzt lieber gehen«, sagte ich leise, als Simon sein Hemd aufknöpfte und ich seine blasse, leicht muskulöse Brust erblickte.
Simon hielt inne. »Geh nicht«, bat er. Sanft klang seine Stimme im Wind, als er meine Hand nahm.
Ich sah den markanten Umriss seines Kinns und die breite, gerade Silhouette seiner Schultern. Ich wäre so gern mit dem Finger an seinem Schlüsselbein entlanggefahren. Ich wäre so gerne bei ihm geblieben. Ich hätte so gerne … Ich hatte Angst vor dem, was ich wollte.
»Warum darfst du keinen Alkohol trinken?«, platzte ich heraus und kniff die Augen zusammen. Die Worte schienen von jemand anderem zu kommen. Ich hatte sie ausgesprochen, ohne darüber nachzudenken. Sie waren einfach so herausgesprudelt. Mist.
Doch obwohl ich tief im Inneren nicht an Beths Behauptungen glaubte, Simon brauche wegen psychischer Probleme Medikamente, musste ich ihn einfach fragen. Ich wollte unbedingt wissen, wer Simon wirklich war, vielleicht, weil alle in meinem Umfeld so aus dem Gleichgewicht geraten waren.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich leise, als Simon lächelte. »Ich habe nicht das Recht, dich danach zu fragen.«
»Ich wollte es dir längst erklären«, erwiderte Simon. »Oder glaubst du etwa, ich würde dir etwas verheimlichen?«
»N-nein«, stotterte ich. »Ich meine, ich weiß es nicht.«
»Ich darf keinen Alkohol trinken, weil ich dauerhaft Medikamente einnehmen muss.« Simon verschränkte die Arme. »Gegen Epilepsie. Ich habe seit Jahren keinen Anfall mehr gehabt, aber um die Krankheit in Schach zu halten, muss ich meine Tabletten nehmen. Und die vertragen sich nicht mit Alkohol. Jedenfalls bei mir nicht. Ich hab’s ausprobiert, und es ist schrecklich.«
Epilepsie. Eine Welle der Scham schwappte durch mich hindurch wie Säure, ein bitteres Brennen, das ich fast schmecken konnte. Ich schämte mich dafür, dass ich an ihm gezweifelt hatte und für den Funken der Erleichterung, als er »Epilepsie« gesagt hatte. Ich hatte wohl etwas anderes, Schlimmeres erwartet.
Schlimmer? Was war ich doch für eine Egoistin! Simon litt unter einer Krankheit, und ich dachte nur daran, inwieweit sie mich betraf! Eine zweite, schmerzliche Sekunde verging in tiefem Schweigen. Ich hätte mir gewünscht, er würde etwas sagen, mich anschreien, wie ich es verdient hatte. Doch er war weder böse geworden noch in die Defensive gegangen. Er hatte lediglich Fakten genannt, nach denen ich nicht das Recht hatte, ihn zu fragen, die ich aber aus Taktlosigkeit dennoch angesprochen hatte.
»Es tut mir leid«, wiederholte ich, schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. »Ich wusste nicht, was ich …«
Doch Simon brachte mich zum Schweigen, indem er mich wieder an sich zog und mich küsste. Warum? , fragte ich mich unablässig. Warum küsst er mich, obwohl ich so an ihm gezweifelt habe? Ich schlang die Arme um seinen Hals und erwiderte seinen Kuss so intensiv und leidenschaftlich, dass ich selbst überrascht war.
Wir lösten uns voneinander. »Ich bin nicht so kompliziert, Mia«, sagte Simon mit unterdrücktem Lachen. »Ich bin so, wie ich hier vor dir stehe. Gehst du jetzt mit mir schwimmen?« Er streichelte mit einem Finger über meinen Wangenknochen, und meine Beine wurden leicht.
»Nein. Bis morgen«, murmelte ich und wich einen Schritt zurück. »Ich muss jetzt wirklich gehen.«
»Musst du nicht.«
Ich drückte seine Hand, und er erwiderte den Druck. Dann ließ ich los. Es geschah zu viel auf einmal. Und zu vieles war schon geschehen.
Als ich zurück zum Haus rannte, rauschten die Wellen im auffrischenden Wind und ich fühlte mich, als balle sich eine Sturmwolke in meinem Inneren zusammen. Er hatte mich geküsst. Kleine, nachträgliche Stromstöße ließen das Blut in meinen Adern schneller fließen. Ich habe ihn geküsst! Ich war aufgeregt. Aber auch ängstlich.
Ich schlüpfte ins Bett, konnte aber wieder nicht einschlafen. Stattdessen fiel ich in einen halbwachen Dämmerzustand und durchlebte den Nervenkitzel des freien Falls, der einen erfasst, wenn Träume und Erinnerungen miteinander
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