Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
hatte ich nichts anderes getan, als mich in Gedankenschleifen zu verstricken, die sich immer enger und enger zusammenzogen. Mir schwindelte.
»Was hast du denn, Mimi?«
Tante Kathleen kam quer über die Veranda auf mich zu. »Ich … bin nur noch etwas müde«, murmelte ich wenig überzeugend. Tante Kathleen hatte dunkle Schatten unter den Augen und den Wangenknochen, lächelte mir aber trotzdem zu. Irgendwie fühlte ich mich dadurch noch mieser.
»Es tut mir so leid wegen gestern Abend«, sagte ich. »Ich finde das alles wirklich schlimm und …«
»Es ist doch nicht deine Schuld, Schätzchen«, unterbrach mich Tante Kathleen und legte mir ihre kühle Hand auf den Arm. »Beth und Corinne waren dafür verantwortlich, nicht du.« Meine Tante legte den Arm um mich. »Komm, lass uns ein Stück spazieren gehen, ja?«
Wir schlugen den Weg zum Strand ein. Meine Tante hielt ihren Arm leicht um meine Schultern gelegt und murmelte kopfschüttelnd: »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum meine Mädchen so außer Rand und Band sind. Früher waren sie so umgänglich. Wir haben ihnen gegeben, was wir nur konnten, aber sie scheinen sich in den Kopf gesetzt zu haben, das alles zu zerstören.«
»Wollt ihr Corinne wirklich zurück in die Stadt schicken?«, fragte ich. Mich interessierte, ob Gen die Wahrheit gesagt hatte. Ob Corinne tatsächlich in so großen Schwierigkeiten steckte, dass ihre Mutter sie für den Rest des Sommers zurück nach Manhattan verfrachten wollte. Wodurch, wie mir nun bewusst wurde, die Sommerferien wahrscheinlich für alle vorbei wären.
»Ich bin mir nicht sicher, ob es so viel besser für sie wäre, wenn wir jetzt nach Hause fahren würden«, erwiderte meine Tante. »Sie könnte regelmäßiger zu ihrer Therapeutin gehen, aber ich weiß nicht, ob das etwas nutzen würde. Letztes Jahr schien es nicht zu helfen.«
»Ihre Therapeutin?« Ich hatte nicht gewusst, dass Corinne in Therapie war. Instinktiv hielt ich das für blöd. Welche Probleme hatte Corinne denn schon? Ihr Leben war ein Traum: eine intakte Familie, eine glänzende Zukunft, alles super. Was konnte ihr da noch fehlen?
»Ich glaube, es bekommt ihr besser, wenn sie einfach hier bei dir bleibt«, fuhr meine Tante fort. »Vielleicht kommt Corinne unter deinem Einfluss zur Besinnung und erinnert sich daran, dass eine Karriere als Balletttänzerin auf sie wartet, an der sie arbeiten sollte. Im Moment scheint sie bereit zu sein, sie einfach wegzuwerfen.«
Die Stimme meiner Tante klang schneidend und verärgert, und wer konnte ihr das verübeln? Wobei ich mir allerdings nicht sicher war, von welchem Nutzen ich sein sollte. Inwiefern konnte ich ›guten Einfluss‹ auf Corinne ausüben? Sie würde sowieso nicht auf mich hören, und wenn, klängen meine Einwände öde – oder, schlimmer noch, belehrend. Bestenfalls, um es in Corinnes Worten auszudrücken, total öde.
»Warum kann sie dir nicht ähnlicher sein, Mia?«, seufzte meine Tante schließlich frustriert. »Du bist so vernünftig!« Mir lief es kalt den Rücken hinunter und ich hoffte inständig, dass sie so etwas nicht Corinne gegenüber erwähnt hatte. Mein Kurswert war sowieso schon am Boden.
Während wir am Strand entlangspazierten, versuchte ich, mir irgendetwas zu Corinnes Verteidigung auszudenken, etwas, was Tante Kathleen milder stimmen würde, aber mir fiel nichts ein. Immer wieder sah ich diese schlimme Szene vor Augen: Corinne, im Sand liegend, befummelt von mehreren Leuten, vollkommen abgedriftet. Ihr leerer Blick verfolgte mich – als hätte sie jemand aus ihrem Körper gehoben und nur die leere Hülle zurückgelassen.
»Corinne hat ein schweres Jahr hinter sich«, fuhr meine Tante fort. Wir liefen über den kalten Sand. »Viele Tänzer verlieren im Laufe ihrer Karriere das Durchhaltevermögen. Das ist auch verständlich. Aber Corinne ist viel zu jung und zu talentiert, um aufzugeben! Sie hat sich gehenlassen, und ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann, ihre Leidenschaft für das Tanzen wiederzufinden.« Eine große Welle klatschte laut auf eine kleinere, und Gischt sprühte über die geschlängelte Wasserlinie. Meine Tante seufzte tief. »Ich dachte, lange Sommerferien wären genau das, was Corinne brauchte, aber …« Kathleen beendete ihren Satz nicht. Ihr Mund bildete einen schmalen, traurigen Strich.
»Es tut mir leid«, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel.
»Nein, Schätzchen, mir tut es leid!«, erwiderte Kathleen. »Es tut mir leid, dass deine
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