Der Sommer der silbernen Wellen: Roman (German Edition)
schon die ganze Zeit während unseres Aufenthaltes hier ordentlich Cocktails gegönnt hatten, aber noch nie hatte ich erlebt, dass Onkel Rufus die Beherrschung verloren hatte. Jetzt atmete er heftig, seine Augen waren wässrig und er hatte offenbar Mühe, geradeaus zu schauen.
»Schau dir mal ihre Augen an! Sie steht unter Drogen!«, kreischte meine Tante.
»Lass mich los!«, fauchte Corinne ihren Vater an und wand sich aus seinem groben Griff.
Anschließend zogen meine Eltern und ich uns zurück. Mom und Dad waren sauer auf mich, aber ihre Sorge um Corinne überschattete alles. Sie sah wirklich übel aus: Ihr Make-up war verschmiert, ihre Haare verfilzt.
»Was hast du ihnen erzählt?«, herrschte mich Corinne vorwurfsvoll an, ein geflüstertes Lallen, während ihre Eltern über die Lage diskutierten.
»Ich habe gar nichts gesagt!«, erwiderte ich wütend. Warum fiel Corinne über mich her? Erstens war es offensichtlich, in was für einem schlechten Zustand sie sich befand, das brauchte niemand ihren Eltern zu erzählen. Und zweitens hätte ich gar nichts sagen können, denn ich wusste ja nicht mal, was sie eingeworfen hatte.
»Ab jetzt keine Freiheiten mehr. Für niemanden«, erklärte meine Tante. »Bis auf weiteres. Keine weiteren Partys in diesem Haus, und auch anderswo nicht, wo wir schon dabei sind.«
Beth schleppte sich hinauf ins Bett und jammerte, sie habe Migräne. Mit hochgerecktem Kopf verschwand sie, erhaben über die Szene unten hinwegblickend.
»Bravo, Mom!«, höhnte Corinne. »Mutter des Jahres!« Die Wut schien sie ausgenüchtert zu haben. Bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte, machte Corinne auf dem Absatz kehrt und verschwand die Treppe hinauf, dicht gefolgt von Gen, die zum ersten Mal, seitdem ich sie kennengelernt hatte, von ihrem hohen Ross herabgestiegen zu sein schien. Sie hatte während der Auseinandersetzung kein Wort gesagt und sich aus der Kampfzone gehalten.
Endlich ließen mich meine Eltern zu Bett gehen, aber ich war viel zu aufgeregt, um an Schlaf auch nur denken zu können. Die Bilder dieses Abends – von Corinne mit Gen, von Guy … von Stacy und Simon – stritten in meinem Kopf um Vorrang. Es war, als hätte jemand ein Fünftausend-Teile-Puzzle hineingeleert und ich könne nicht schlafen, bis ich es fertig zusammengesetzt hatte.
Ich kletterte hinaus aufs Dach. Zwar hatte ich Hausarrest, aber ich befürchtete nicht, erwischt zu werden. Es war spät, und falls noch jemand wach sein sollte, lag mein Zimmer zu weit entfernt von den Räumen der Erwachsenen. Niemand würde mich bemerken.
Als ich hinaus zum Strand starrte, sah ich ein kleines, rotes Licht, das sich bewegte, eine spinnenhafte rote Spur, die in der Dunkelheit hin- und herwanderte. Offenbar war Simon dort draußen und rauchte eine Zigarette. So leise wie möglich rutschte ich das Rankgitter hinunter und schlich zum Strand. Langsam näherte ich mich Simon. Ich war erleichtert, ihn zu sehen, obwohl er mich versetzt hatte.
»Hi«, sagte ich kühl. Vielleicht wäre ich besser auf dem Dach geblieben. Oder in die andere Richtung gegangen. Was hätte er schon sagen können, um sich zu entschuldigen? Tut mir leid wäre ein bisschen wenig gewesen.
»Hallo.«
Ich zog eine Augenbraue hoch. Tut mir leid wäre immerhin besser gewesen als hallo. Warum klang er so distanziert? Wo blieb die sofortige Entschuldigung, der Rückzieher, die Erklärungen, dass alte Gewohnheiten sich schwer ändern ließen und Liebe unsterblich sei?
Ich grub die Zehen in den Sand und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wohin bist du vorhin verschwunden?«, fragte ich herausfordernd.
»Wer? Ich?«, fragte Simon überrascht zurück. »Du warst doch plötzlich weg!«
»Na klar.« Ich bekam Kopfschmerzen. Plötzlich stand mir der ganze Abend wieder deutlich vor Augen und mich durchfuhr ein schmerzlicher Stich. Hätte Simon draußen auf der Veranda gewartet, anstatt irgendwohin zu verschwinden und sich mit Stacy auszusprechen oder abzuknutschen, hätte ich Corinne nie entdeckt. Und wenn ich sie nicht gesehen hätte, hätte sie mich vielleicht nicht so hasserfüllt angestarrt, bevor sie zu Bett gegangen war.
Tränen brannten in meinen Augen. Ich hätte alles dafür gegeben, mich mit einem Zwinkern zurück nach Georgia zaubern zu können. Weg von all diesen Leuten, die sich benahmen wie die Axt im Walde. Sogar weg von Simon – besonders von Simon. Ich hatte ihn zu der Party eingeladen, und er hatte mich bei der erstbesten Gelegenheit im
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