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Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Derbort
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der andere Aspekt der Geschichte. Viele der wesentlichen Ämter im Ort hatte Vater Inquisitor selbst inne. Aber nicht alle. Sein Stellvertreter bei allen weltlichen Ämtern war sein Bruder. Also ein klassischer Familienbetrieb. Dieser Bruder war wohl machtgeil ohne Ende und hatte schon lange auf eine günstige Gelegenheit gewartet, die Geschicke von Berghausen zu leiten. So kam auch ihm der Tod von Vater Inquisitor sehr gelegen. Und die Tatsache, dass der Mörder erkannt und sofort gefasst wurde, hatte er genutzt, um den Leuten zu zeigen, wo von da an der Hammer hing. Der Wanderer wurde in einem öffentlichen Schauprozess zum Tode verurteilt und auf dem Hexenhügel hingerichtet. Niemand wagte etwas dagegen zu unternehmen. Auch der neue Machthaber war als Sadist bekannt. Der Wanderer hatte zwar während des Prozesses laut an die Bewohner appelliert, kurzen Prozess zu machen und auch den Bruder von Vater Inquisitor zu töten, aber alles, was er erreichte, war, dass ihm auf Geheiß während des Prozesses die Zunge herausgeschnitten wurde. In der Nacht schrieb er mit dem Blut aus seinem Mund etwas an die Wände seiner Kerkerzelle.“
    „Was?“
    „Genau das, was dir Pfarrer Schuster vorgelesen hatte.“
    „Scheiße.“
    „Und es kommt noch was ...“
    „Was denn?“
    „Ich habe noch nicht erzählt, wie er hingerichtet wurde.“ Anna machte eine Pause und trank einen Schluck Wein. „Die haben ihn glatt auf dem Hexenhügel gekreuzigt.“
    Bianca starrte mit aufgerissenen Augen auf Annas Hände.
    „Und das Ende der Geschichte“, fuhr Anna in einem Tonfall fort, der gekünstelt locker klang, „ist, dass die Bewohner nur wenige Wochen später den Bruder von Vater Inquisitor lynchten. Hätten die mal früher ihren Arsch hoch gekriegt, hätte ich jetzt nicht diesen Ärger mit diesen Stigmata.“
    „Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.“ Bianca war perplex.
    „Am besten gar nichts. Hör einfach nur zu. Ich bin noch nicht fertig.“
    „Was kommt denn noch?“
    „Das kleine Stelldichein mit dem Wanderer hatte bei der Frau gewisse Folgen. Sie war schwanger und brachte einen kleinen Wanderer auf die Welt.“
    „Und weiter?“
    „Sie starb bei der Geburt. Der Junge wurde von einem Bauern aufgezogen, der Dank Vater Inquisitor seine Frau und all seine fünf Kinder verloren hatte. Jetzt kommt dein Happyend: Der Junge hatte ein gutes Los erwischt. Einige Bauern fuhren in die Nachbardörfer und lachten sich dort Frauen an. Im Laufe der nächsten fünfundzwanzig Jahre normalisierte sich das rechnerische Verhältnis zwischen Männern und Frauen wieder. Der Sohn des Wanderers wuchs auf, erbte den Hof seines Pflegevaters, bekam eine Frau und Kinder und so weiter. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie glücklich bis an ihr Lebensende.“
    „Amen.“
    „Und jetzt kommen wir zu dem Punkt, wo du so langsam etwas Hochprozentiges brauchst.“
    „Bitte nicht noch mehr Horrorgeschichten“, stöhnte Bianca.
    „Sorry“, entgegnete Anna. „Aber da musst du jetzt durch.“
    Sie stand auf und ging hinter die Theke. Wenig später kam sie mit einem recht dicken Schnellhefter und einem Glas Cognac zurück.
    Den Cognac stellte sie vor Bianca hin und setzte sich nun direkt neben sie.
    „Wofür ist der?“ Bianca deutete verwirrt auf den Cognacschwenker.
    „Wart’s ab“, sagte Anna und öffnete den Schnellhefter.
    „Der kleine Wanderer hörte auf den hübschen Namen Johannes Nussinger. Er hatte den Zunamen seines Pflegevaters verpasst bekommen. Er wurde 1505 geboren und starb 1571 eines natürlichen Todes. Er zeugte fünf Kinder. Ich habe herum recherchiert und die Stammbäume verfolgt. Das waren zwei Jahre harte Arbeit.“
    „Warum hast du das getan?“
    „Ich war einfach neugierig. Zwischenfrage: Du kommst jetzt schon seit gut fünf Jahren in schöner Regelmäßigkeit hierher. Wenn ich dich so anschaue, hätte ich viel eher vermutet, dass du zu den Leuten gehörst, die sich ihre Titten am Stand von Ibiza hübsch braun grillen lassen.“
    „Mir gefällt es hier. Bin ich hier nicht gerne gesehen?“
    „Nö ...“, antwortete Anna ausweichend. „Ich habe mich nur so gefragt ...“
    „Mach lieber weiter“, sagte Bianca ungeduldig und deutete auf den Schnellhefter.
    „Ganz wie du willst. Ich habe sämtliche Linien verfolgt. Bis auf eine verlieren sie sich alle. Die Linie, die bleibt, habe ich rot markiert.“
    Anna deutete auf die mit Filzstift rot umrandeten Namen.
    „Ich bete dir also nur die Namen runter,

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