Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

jeder alles.
Ist ja so oder nicht? Ja, ist so. Viele haben halt Talente, die nicht besonders
nützlich sind. Mancher kann auch gar nix. Schlimme Sache. Aber nun gut.“
    Rolo war
verwirrt. „Heißt das, dass nicht alle Schüler der siebten Klasse in der
Nachtwehr sind?“
    „Alle
Schüler? Nein, absolut nicht. Das fehlte mir noch. Wenn jemand völlig schlecht
ist im Schießen oder im Schleichen, was soll ich dann mit ihm? Dann ist es wohl
besser, wenn er einen anderen Beruf erlernt. Bäcker oder Köche, Schmiede oder
Bauern, die werden ja auch gebraucht. Ehrenwerte Berufe sind das. Und, ein
großer Vorteil, man wird in der Regel nicht aus dem Hinterhalt erschossen oder
vom Wolf geholt. Aber, wie gesagt, in der letzten Klasse werden einige dann Nachtwehrer.
Talent muss man haben. Und wer sich in der Nachtwehr wirklich gut macht, der
wird zum Neolinga ausgebildet!“
    „Die
Neolinga?“
    „Soldaten.
Krieger. Jäger. Von allem was und noch viel mehr.“
    „Also wird
bei euch entschieden, wer welchen Beruf erlernt, je nachdem, was er oder sie
gut kann?“
    „Ja, eigentlich
schon. Natürlich wird keiner gezwungen. Ist ja ein Beruf, muss ja Spaß machen.
Empfiehlt sich natürlich, seiner Begabung entsprechend zu wählen. Aber meistens
kann man ja das gut, was einem auch Freude macht oder nicht?“
    Sie
überquerten eine kleine hölzerne Brücke über den Fluss. Das Wasser rauschte in
der Dunkelheit.
    „Lernt ihr
denn auch Lesen, Schreiben und Rechnen?“, fragte Rolo.
    „Natürlich
lernen wir das auch. Was denkst du denn? Das passiert in den Jahren vorher. Mit
dem elften Geburtstag geht’s zur Farralot.“
    „Farralot“,
flüsterte Rolo.
    „Ja, so
heißt die Schule. Farralot. Aber es kann halt nicht jeder ein Neolinga werden.
Das wollen natürlich alle, besonders die Jungs. Alle Draufgänger. Aber das
wächst sich raus. Sonst hätten wir ein Problem. Keine Handwerker, keine Köche,
keine Bauern, nix mehr. Nimm nur deine Freunde. Onno wird bestimmt ein
großartiger Koch. Oder ein Bäcker. Hat er ein Händchen für. Talent. Wenn es so
weitergeht, wird er in der siebten Klasse ein Meisterschüler der Bäcker. Nach
der Schule wird er dann viele Jahre ausgebildet zum Meister der Zünfte. Wenn Onno
jetzt unbedingt ein Neolinga werden wollte, müsste er sich ordentlich ins Zeug
legen. Dann wiederum könnte man über alles reden. Wichtig ist, dass jeder
lernt, sich hier draußen am Leben zu halten. Das ist Tradition. Soll jeder
können. Muss jeder können. Oder wenigstens mal gelernt haben. Will Adalar so.
Man weiß nie, was noch kommt. Oder? Nein, weiß keiner. Waren früher schlimme
Winter. Lange Winter. Sehr kalt. Viel Schnee. Furchtbar. Es gibt natürlich auch
noch die Farindor, aber mit denen hab ich nichts zu tun. Und ich mag sie auch
nicht besonders.“
    „Die Farindor?
Wer oder was sind denn die Farindor?“
    „Ah, da sind
wir schon“, sagte Hwarf und bog eilig um die nächste Ecke.
     
    Driftwood
rannte, so schnell er konnte. Ein Wettlauf mit der aufgehenden Sonne. Noch war
nichts von ihr zu sehen. Bäche und Flüsse, die durch den Spineus in die Stadt
flossen, kreuzten seinen Weg. Er hatte kurz darüber nachgedacht, mit dem Wasser
in die Stadt zu tauchen. Jedoch war er sicher, dass die Neunseener diese
Möglichkeit durch Gitter oder Netze ausgeschlossen hatten. Und für diese wage
Chance wollte er keinen nassen Pelz riskieren. Der Nebel war nicht so dicht am
Rand der Stadt und behinderte ihn kaum. Driftwood versuchte, entgegen seiner
sonstigen Gewohnheit, leise und schnell zu sein. Begegnungen im Tageslicht
wollte er nach Möglichkeit vermeiden. Er sprang geschickt über einen alten
Kahn, der im Gras lag. Kotze schien es großen Spaß zu machen.
    „Und denk
dran, wenn wir in der Stadt sind, spreche ich!“ „Brrr!“, bestätigte Kotze.
    Driftwood
versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal in Neunseen gewesen war. Er
wusste es nicht mehr. Aber sich erinnern war auch keine seiner Stärken. Jedoch
war er sicher, dass die Stadt früher besser bewacht war.
    „Hier waren
überall Patrouillen, vor und hinter dem Spineus. Anscheinend gibt es keinen
Anlass mehr zu so viel Vorsicht. Hat der sogenannte Frieden tatsächlich
gehalten? Herrje, wie lange waren wir eigentlich weg?“
    „Brrr.“
    „Ich weiß,
dass du das nicht weißt. Die Frage war rhetorisch. Aber es scheint, dass die
Menschen von Neunseen erfolgreich alles vernichtet haben, was ihnen als
Bedrohung erschien. Denken sie zumindest!“
    Vor