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Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Titel: Der Sommer der Vergessenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Grandjean
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seinem
geistigen Auge erschienen unklare Bilder der Vergangenheit. Seit seiner
Erweckung im letzten Winter hatte er es erfolgreich vermieden, sich an das Ende
zu erinnern. „Diese verdammten Neolinga!“ Das Gefühl der Ungerechtigkeit machte
ihn wütend. Aber auch traurig. Er spuckte angewidert ins Gras, als könnte er
diese unreinen Gedanken so aus seinem Kopf entfernen, und rannte noch
schneller.
    „Brrr?“,
fragte Kotze.
    „Nicht
jetzt, mein Freund, nicht jetzt.“
    Die Zeit
vergeht im Fluge, wenn man mit ihr um die Wette läuft. Nach einer gefühlten
halben Ewigkeit erreichten sie die Straße zum Haupttor. Driftwood musste erst
wieder zu Atem kommen. Nahe der Stadt war die Straße gesäumt von prächtigen
Bäumen. Dazwischen stand das Auto der Blutguts. Für Driftwood sah es aus wie
eine große gelbe Kiste, die ihn nicht weiter interessierte. Er hatte eine
Mission zu erfüllen und sammelte seine Gedanken für die bevorstehende Aufgabe.
Er zupfte das Cape so zurecht, dass nichts von seinem schwarzen Fell zu sehen
war, und trat zwischen den Bäumen hervor auf die Straße. Kotze schwieg. Das Tor
war geöffnet. Driftwood war sich sicher, dass die Wachen ihn beobachteten. Es
war eine seiner guten Eigenschaften, dass er in gewissen Situationen der Gefahr
so übermutig ins Gesicht lachte, dass es schon fast eine Frechheit war. Noch
immer nagte die Wut an ihm und gab ihm Kraft. Das nasse Cape schleifte über den
Boden. Das Fallgatter schwang knirschend im Stadttor. Die fernen Geräusche der
ersten Vögel drangen gedämpft durch den Nebel. Tipp, tapp, tipp, tapp.
Driftwoods nasse Pfoten hinterließen Spuren. Er hoffte, dass niemand so genau
hinsah, oder dass das schleifende Cape sie verwischte. Er trat durch das Tor. Keine
Wache, keine Bewegung. Doch dann rief jemand. „Kjeir, bist du das?“ Die Stimme
kam aus den dunklen Fenstern oben in den Häusern.
    Driftwood
erinnerte sich, dass der fluchende Wanderer mehrmals diesen Namen erwähnte. So
erschien es ihm ratsam, diese Frage zu bejahen, was er dann auch tat.
    „Ja, ich bin
es“, rief er, sehr froh, dass er sich vor Jahren die Sprache der Menschen
angeeignet hatte. Es klang ein wenig gestelzt, Driftwood war aus der Übung, was
solche Manöver anging.
    „Oh Mann“,
erwiderte die Stimme. Es schien ein Mädchen zu sein. „Da hast du dir aber
ordentlich Ärger eingehandelt mit dem alten Hwarf. Hab den noch nie so wütend
gesehen. Wie konntest du nur so ausflippen? Da wird selbst dein Vater dich
nicht raushauen können.“
    Driftwood
wusste beim besten Willen nicht, was er erwidern sollte. So hob er nur einen Arm
mit dem schlabbernden Ärmel und winkte hinauf in die Dunkelheit.
    „Ja, ist
schon in Ordnung, wenn du nicht drüber reden willst. Beruhig dich erstmal und
schlaf drüber. Aber das Fest hast du fast verpasst. Geh doch noch hin. Vielleicht
kannst du einen mit Hwarf trinken und dich entschuldigen.“ Driftwood zuckte
ratlos mit den Schultern, was seine Gesprächspartnerin offensichtlich als
Ablehnung interpretierte.
    „Ja, schon
klar, ist dir egal. Aber ich sag es dir, diesmal kriegst du Ärger! Ach, mach
doch, was du willst!“
    Driftwood
wartete ab. Nachdem es ein paar Augenblicke ruhig blieb, dachte er sich, dass
es seltsam aussehen musste, wenn er hier herumstand, und ging weiter. Das alles
erschien ihm fast zu einfach. Er hatte erst wenige Schritte getan, als wieder
gerufen wurde.
    „Halt!“ Es
war eine andere Stimme. Sie klang tiefer und kam aus einer anderen Richtung.
Driftwood tat, wie ihm befohlen. Leichtes Unbehagen machte sich breit.
    „Du hast
noch nicht das Losungswort gesagt“, rief die Wache. Das erwischte Driftwood
eiskalt. Er überlegte, ob ihm irgendein logischer Begriff in den Sinn kam. Dann
überkam ihn der Wunsch, durch das offene Tor davon zu laufen. Im nächsten
Moment dachte er daran, die Wächter mit Hilfe von Magusch zu vernichten, was
ihm aber ein wenig zu drastisch erschien. Gibt es hier keine Möglichkeit,
sich zu verstecken?
    „Kjeir, du
Trottel, es gibt überhaupt keins“, rief die Wache. Die Wächter brachen in
Gelächter aus. Driftwood zählte sechs verschiedene Lacher. Er ging weiter, aber
der Schreck saß ihm noch ordentlich in den Gliedern. Er mochte es nicht
besonders, wenn auf seine Kosten gelacht wurde. „Lacht ihr nur“, flüsterte er.
„Ich bin drin.“ Er schritt durch die stille Häuserschlucht. An den Häuserwänden
hingen Fackeln. Das alles erschien ihm überraschend vertraut und er dachte an
Socke.

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