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Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Der Sommer der Vergessenen (German Edition)

Titel: Der Sommer der Vergessenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Grandjean
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Rolo verschlug es den
Atem. Sie waren im Inneren eines Turmes. Kreisrund war er wie ein Leuchtturm.
Nur viel breiter im Durchmesser. Am Boden schien sich eine große Halle über die
gesamte Fläche zu erstrecken. Unzählige Balkone schraubten sich spiralförmig
die Wand entlang in die Höhe. Sie waren mit Brücken und Leitern untereinander
verbunden. Wie hoch der Turm war, konnte Rolo nicht sehen. Das Licht war zu
schwach. Durch runde Fenster schien die Abendsonne hinein. Sie brach sich an
verspiegelten Flächen. „Paps, jetzt aber mal ehrlich: Wo sind wir?“
    „Ich erkläre
dir alles unten. Sei bitte vorsichtig.“ Er deutete auf die Treppe direkt zu
Rolos Füßen. Rolo hätte schwören können, dass sie eben noch nicht da war. Sie
stiegen hinab. Die Bewegung tat ihm gut. In seinem Kopf war es schnell weniger
schummrig. Am Fuß der Treppe stand, verloren in der Weite des Raumes, ein
einzelner Tisch, an dem zwei Personen saßen. Die eine las in einem Buch, die
andere blickte rauf und winkte. Rolo winkte zurück und beeilte sich,
hinunterzukommen. Tante Farrah hatte etwas von einem großen, dünnen Vogel. Die
Ärmel ihres Kleides flatterten, als sie Rolo in ihre Arme schloss. Ihr Gesicht
war hager, ihre Augen strahlten vor Freude. Das graue Haar war zu einem ordentlichen
Dutt hochgesteckt.
    „Rolo, mein
Junge. Ich habe mich so gesorgt.“
    Obwohl Rolo
sich nicht daran erinnern konnte, Tante Farrah schon mal gesehen zu haben – er
war ja noch ein Baby bei ihrer letzten und wahrscheinlich einzigen Begegnung -
mochte er sie sofort. Sie roch nach Lavendel.Ihre heisere Stimme rührte
etwas in ihm. So fühlt sich Familie an, dachte Rolo. Den Kloß im Hals schluckte
er runter.
    „Ich hätte
dich immer noch unter Hunderten erkannt“, sagte sie. „Euch endlich wieder hier
zu haben. All die verlorene Zeit.“
    Rolo nickte.
Er war froh, als Belenus sich schwerfällig von seinem Stuhl erhob, und so die
Aufmerksamkeit von ihm ablenkte. Auf dem Tisch lag das Buch, das seinem Vater
so viele Rätsel aufgab.
    „Hast alles
gut überstanden? Robust! Musst hungrig sein? Warte kurz, ich hol uns was.“
    Rolo merkte
erst jetzt, dass er tatsächlich hungrig war wie ein Löwe.
    Belenus
durchschritt die Halle in einem Tempo, das seine Körpermasse Lügen strafte. Er
verschwand durch eine Tür. Sie setzten sich.
    „Wie geht es
dir?“, fragte Tante Farrah.
    „Es geht.
Mein Kopf tut weh. Und ich kann mich nicht an gestern Nacht erinnern.“
    „Das kommt
schon. Die Erinnerungen sind ja noch da drin.“ Sie tippte Rolo mit dem
Zeigefinger auf die Stirn. „Ist nur etwas durcheinandergeraten. Ich wette, du
hast tausend Fragen.“
    „Mindestens tausend!
Was ist das hier für ein Haus? Ist das überhaupt ein Haus? Und gestern. Wie
hast du das gemacht? Geleuchtet hast du! Und deine Stimme. Die kam von überall
her zugleich. Und die Nachtwehr!“
    „Eins nach
dem anderen“, lachte Tante Farrah.
    Belenus kam
zurück. Er trug eine schwarze Schürze und schob einen Servierwagen. Gemeinsam
deckten sie den Tisch. Rolo wurde nicht müde, seine Begeisterung zum Ausdruck
zu bringen. Ein Käsebrötchen kauend, berichtete er von Zuhause und von der
Reise nach Neunseen. Allerdings vermied er es, den eigentlichen Grund ihrer
Reise zu erwähnen. Den Brief. Tante Farrah lauschte aufmerksam. Paps erzählte
von ihrer Begegnung mit Solomon. „Stand einfach da, mitten auf der Straße. Wenn
Roland nichts gesagt hätte, ich hätte ihn überfahren.“
    „Und er
sagte, dass er euch kennt“, ergänzte Rolo schmatzend.
    „Wie war der
Name? Solomon? Mmh“, grübelte Belenus. „Kommt mir nicht bekannt vor. Und
Schäfer soll er sein?“
    „Wir haben
hier keinen Schäfer mit diesem Namen. Vielleicht hat sich jemand einen Scherz
mit euch erlaubt. Wie genau sah er aus?“
    Sie
beschrieben jedes Detail, an das sie sich erinnern konnten. Die Augenklappe,
der Schlapphut, der Bart. Als sie den Stock mit dem Krähenkopf erwähnten,
meinte Rolo, so was wie Überraschung in Belenus Gesicht zu sehen. Aber der
schüttelte den Kopf. „Kenn ich nicht.“
    Tante Farrah
wechselte das Thema. „Wir müssen später zu Adalar. Nach dem unangenehmen
Vorfall mit Kjeir möchte er mit dir reden, Roland. Aber nur, wenn du dich stark
genug fühlst?“
    „Perfekt!
Dann kann ich gleich mal fragen, ob ich nicht in der Schule mitmachen kann.
Trotz des Schlamassels mit Hwarf“, fügte er leiser hinzu.
    Paps
seufzte. Belenus schaute auf. „Du interessierst dich für die Farralot?

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