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Der Sommer des Kometen

Der Sommer des Kometen

Titel: Der Sommer des Kometen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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aber größer als die Einzelzellen. Es war dämmerig, und sie erkannte zunächst nur drei vorgebeugte Rücken. Die bewegten sich nicht, und in dem diffusen Licht wirkten sie wie eine dieser Scharaden, bei denen die Spieler im Lauf erstarrten, damit die Zuschauer errieten, was sie darstellten.
    Plötzlich gewann das Bild Leben. Aus den Rücken wurden drei Männer, die sich über einen vierten beugten, der seltsam verrenkt in einem Lehnsessel auf einem eigenartigen runden Podest hing. Die drei versuchten vergeblich, den Mann auf dem Stuhl aufzurichten. Einer schlug ihm auf die Wange.
    «Lass das, Rüther», rief einer der beiden anderen, ein Mann im teuren Rock, «hol Wasser. Und Riechsalz. Wenn du keines findest, bring Ammoniak. Schnell.»
    Wasser, dachte Rosina, hat der schon genug gehabt.
    Der Mann auf dem Stuhl, ein kleiner, dicklicher Mann mit wirren grauen Haaren und leichenblassem Gesicht, war völlig durchnässt. Eine leere Zinkwanne stand neben ihm in einer Wasserlache. Darin schwamm ein dicker, von Speichel und Erbrochenem verschmierter Knebel.
    Niemand beachtete Rosina, selbst der Wärter, der um Wasser geschickt worden war, schob sie nur beiseite, als er hastig den Raum verließ, und nun konnte sie den Kranken genauer erkennen.
    Sein Kopf hing starr im Nacken, die Augen waren so verdreht, dass man nur mehr das Weiße in ihnen sah, und aus seinem Mund und seinem linken Ohr sickerten dünne Rinnsale von Blut.
    Auch Ammoniak würde ihm nicht mehr helfen. Der Dichter Lysander Julius Billkamp war tot. Er hatte die rasende Tortur auf dem Drehstuhl, mit der Doktor Kletterich versucht hatte, ihm den Wahnsinn auszutreiben, nicht überlebt.
     
    Schon am Nachmittag machte die Nachricht vom plötzlichen Tod des Dichters in Hamburg die Runde. Dietrich Köster, Verleger und Buchdrucker in der Steinstraße, der gegen gutes Geld schließlich bereit gewesen war, ein dünnes Bändchen mit Billkamps Elysischen Gesängen zu drucken, erfuhr es von zwei Damen, die mit kleinen schwarzen Rüschen an ihren Brusttüchern in sein Geschäft vor der Druckerei kamen und alle Werke «unseres verehrten elysischen Poeten» verlangten. Sie nahmen dann allerdings doch nicht die ganze Kiste, sondern jede nur fünf Exemplare, was Köster sehr bedauerte, denn er hätte ihnen wirklich gerne die gesamte Auflage verkauft. Bisher fehlten nur die zehn Bände, die der Künstler selbst erstanden hatte, um sie den wenigen wahren Kunstverständigen in dieser Stadt zu verehren. Kösters Bedauern währte allerdings nur kurz. Noch am selben Nachmittag hatte er alle Exemplare verkauft, obwohl er schon nach dem dritten Kunden den Preis verdoppelt hatte.
     
    Hätten sich Claes und Christian Herrmanns, wie am Tag zuvor verabredet, nach der Börse in Jensens Kaffeehaus getroffen, wären sie mitten in eine heftige Diskussion über die gesundheitsschädigende Wirkung der Dichtkunst geraten. Das Kaffeehaus war wie gewöhnlich um diese Stunde bis auf den letzten Stuhl besetzt, und wenn das beständige Summen der Stimmen einmal leiser wurde, klang aus dem hinteren Raum das helle Klicken der Billardkugeln herüber. Die Debatte war zum allgemeinen Geschrei geworden, als Syndikus Meyer sich mit lauter, harter Stimme verbat, so ruchlos über einen gerade erst Verstorbenen zu sprechen.
    «Dann warten wir eben ein bisschen», schrie einer von den hinteren Tischen, der offenbar Branntwein in seinen Kaffee gemogelt hatte, und alles lachte.
    Und schon ging es hoch her, Sätze flogen durch den Raum, Gelächter hallte hinterher, und die Köpfe röteten sich. Der Syndikus hatte sich längst wieder in stillem Zorn auf seinen Stuhl gesetzt, weil die Aufregung nur einen neuen Aderlass nötig machen würde. Es waren ja auch genug andere da, die guten Sitten zu verteidigen. Doch da irrte er: Auch wenn die lauten Stimmen nach Streiterei klangen, ging es bald nur noch darum, einander in den wildesten Vermutungen über Billkamps Leiden zu übertreffen.
    «Die christliche Moral und unsere guten hanseatischen Sitten gehen vor die Hunde», sagte der Syndikus dumpf und wischte sich immer wieder mit einem dazu völlig ungeeigneten Spitzentüchlein die schweißnasse Stirn. «Vor die Hunde, sage ich Euch, Bocholt, ganz und gar.»
    Bocholt, der in Gesellschaft des Reisenden Kosjan mit Meyer an einem Tisch saß, nickte nur höflich und lauschte weiter gespannt dem, wie er fand, kolossal unterhaltsamen Schlagabtausch der Stimmen. Bis das erfrischende Spektakel begann, hatten die beiden anderen

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