Der Sommer des Kometen
das war nun schon mehr als ein Jahr her, und es kam ihr sehr unpassend vor, einfach anzuklopfen. Und nun stand sie in diesem Garten vor Claes Herrmanns und fühlte sich steif wie ein Klippfisch.
Aber da war Anne schon aufgesprungen.
«Rosina», rief sie und umarmte die Komödiantin wie eine alte Freundin. «Ich wusste doch, dass dieser Tag nicht nur schlechte Neuigkeiten bringt.»
Rosina lächelte erleichtert. Die Ehe, fand sie, bekam Anne offenbar gut, sie hatte ihr zumindest nichts von ihrer munteren Unbefangenheit genommen. Und wie im vergangenen Jahr, als sie einander kennengelernt hatten, war ihr Teint zu sehr gebräunt und ihre stets etwas unordentliche Frisur nicht unter einer Haube versteckt. Das hatte sie mit Helena gemeinsam, diese liebenswerte Unachtsamkeit für die Äußerlichkeiten, die den Bürgern doch sonst so wichtig waren.
«Ich freue mich, Euch so wohl wiederzusehen, Madame Herrmanns, ich …»
«Anne, chère amie. Für Euch immer noch Anne.»
Rosina griff nach ihrer Hand, und plötzlich war alles ganz einfach. Es dauerte nicht lange, und sie saßen um den Tisch im Gartenzimmer. Nachdem alle einander versichert hatten, dass es ihnen sehr gutgehe und wie schrecklich diese Hitze doch sei, traf auch Christian ein. Er brannte darauf, mit seinem Vater über dessen Besuch bei den Stedemühlens zu sprechen, und fand diese Besucherin, von der er schon viel gehört hatte, zwar hübsch und auch interessant, aber gerade heute äußerst lästig. Aber es ging schon auf den Abend zu, lange konnte sie nicht mehr bleiben. So zog er einen Stuhl heran, goss sich ein Glas Zitronenwasser ein und hörte zu. Nachdem ausführlich über Augustas nun schon Monate währenden Aufenthalt in Köln und Bad Pyrmont und über die Hochzeit von Helena und Jean gesprochen worden war, verriet Rosina endlich den eigentlichen Grund ihres Besuchs.
«Sicher wären wir nicht weitergereist, ohne bei Euch vorzusprechen, Anne», begann sie. «Aber heute habe ich ein Anliegen. Wenn Ihr ein wenig Geduld habt», wandte sie sich an Claes, «erzähle ich Euch rasch die ganze Geschichte, damit Ihr besser versteht.»
Claes nickte, und Rosina erzählte von dem verschwundenen Stück und von dem plötzlich verstorbenen Dichter. Die geheimnisvolle Salbe erwähnte sie allerdings nicht. Die drei Herrmanns hörten ihr bis zum Ende zu, ohne zu unterbrechen.
«Helena sah Euch heute Vormittag mit dem Cousin von Monsieur Billkamp auf dem Großneumarkt reden», schloss sie. «Deshalb dachte ich, Ihr könnt uns vielleicht helfen.»
«Das will ich gerne versuchen, aber wie?» Claes’ Gesicht verriet Zweifel. «Glaubt Ihr, Jörn Billkamp weiß etwas von diesem Manuskript? Sein Vetter hatte sich in den letzten Jahren sehr von seiner Familie zurückgezogen. Er fühlte sich brüskiert, weil sie sich für seine Dichterkünste genierten.»
«Ich weiß es nicht. Und wenn er etwas weiß, wird er es wahrscheinlich nicht zugeben. Meister Lysander schrieb ja von einem Skandal, der viel Staub aufrühren sollte.»
Claes schwieg und überlegte.
«Ich kenne Billkamp nicht sehr gut», sagte er dann langsam, «natürlich kann ich ihn fragen. Aber ob er mir erzählt, was er in den Papieren seines Vetters gefunden hat? Und, verzeiht mir, es scheint mir auch ein wenig pietätlos, ihn so kurz nach dem Tod eines nahen Verwandten mit Neugier zu belästigen.»
«Sicher habt Ihr recht. Aber ich fürchte, wir haben nicht sehr viel Zeit. Ich habe Euch noch nicht alles erzählt, doch das muss ich nun wohl tun.» Rosina rutschte auf die Stuhlkante, setzte sich sehr gerade hin und atmete tief ein. «Vielleicht sehe ich Gespenster, aber ich glaube, dass Meister Lysander nicht zufällig gestorben ist.»
«Was meint Ihr damit?», fragte Anne, die die Geschichte bis jetzt schon höchst unterhaltsam gefunden hatte.
«Ich glaube, jemand hat, wie soll ich sagen, ein wenig nachgeholfen. Während im Pesthof alle ganz aufgeregt versuchten, den armen Mann in seinem Marterstuhl wieder zum Leben zu erwecken, lief ich fort. Ich war wirklich nur auf der Suche nach frischer Luft. Aber dann kam ich an seiner Kammer vorbei, die Tür stand weit offen, es war niemand in der Nähe, da konnte ich einfach nicht widerstehen. Ich trat ein und sah mich ein wenig um. Um ehrlich zu sein: Ich habe den Schrank und die Lade seines Tisches gründlich durchstöbert. Und auch unters Bett gesehen. Ich dachte, ich finde das Stück. Da waren tatsächlich viele bekritzelte Bögen Papier, aber von einem Drama
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