Der Sommer des Kometen
keine Spur. Vielleicht war es da, aber ich hatte ja nicht viel Zeit. Stattdessen fand ich aber etwas anderes, einen gläsernen, gut verschlossenen Napf, auf dem ein Zettel mit eigentümlichen Zeichen klebte. Ich steckte ihn einfach ein, der Verdacht, dass er etwas mit dem Tod des Dichters zu tun haben könnte, kam mir erst gestern Abend.»
«Aber ich denke, er hat diesen Drehstuhl nicht überlebt?»
«Das mag schon sein, Anne, aber warum ist er überhaupt in den Pesthof gekommen? Warum hat er sich vorher so seltsam benommen? Heute Morgen habe ich Lies den Napf und diese Zeichen gezeigt, und sie sagt, dass die Salbe darin wahrscheinlich eine Hexensalbe ist.»
«Aber Rosina!» Claes lachte, und hinter dem Lachen spürte sie ungeduldigen Ärger. «Lies’ Künste in allen Ehren, wir alle haben davon profitiert und sind ihr dafür sehr zu Dank verpflichtet, aber Hexensalbe! Solchen Hokuspokus nimmt doch niemand mehr ernst.»
«Ich habe befürchtet, dass Ihr das sagt. Aber Doktor Struensee und sein Freund Doktor Gerson, die als Letzte im Verdacht stehen, der Quacksalberei anzuhängen, haben uns gestern erklärt, dass es Kräuter gibt, die seltsame Gefühle hervorrufen oder auch den Geist verwirren. Ich musste ganz fest versprechen, die Salbe nicht selbst auszuprobieren. Aber der Napf war auch schon ziemlich leer, und Lies», fügte sie mit sichtlichem Bedauern hinzu, «hat ihn mir sowieso nicht wiedergegeben.»
«Aber natürlich», rief Anne aufgeregt. «Weißt du nicht, dass es so etwas gibt, Claes? Zu Hause, ich meine auf Jersey, gibt es eine Frau, sie lebt an den Klippen in der Nähe von Grosnez, von der sagt man, dass sie solche Salben macht und bei Vollmond …» Sie sah Claes’ amüsierten Blick und verstummte ärgerlich.
«Lassen wir die Sache mit den Hexen und dem Vollmond mal beiseite», mischte sich nun Christian beschwichtigend ein. Er hatte schon viel von Rosina und den Komödianten gehört und sich eine etwas grelle junge Frau mit eher schlichtem Gemüt vorgestellt. Nun traf er sie zum ersten Mal und war von ihrer eigenwilligen Schönheit und ihren guten Manieren überrascht, genau gesagt, sogar ein wenig verwirrt. Nichts schien bei ihr zusammenzupassen. «Billkamp war doch immer ein halbwegs vernünftiger Mann», fuhr er fort, «nur weil einer Verse macht, ist er ja noch nicht verrückt, und plötzlich hielt er wirre Reden und behauptete, fliegen zu können. Und das, Vater, kannst du nicht mit der Hitze erklären. Die Leute sagen, er begann damit schon im April, und der hat uns noch Morgenfröste gebracht. In Annes Garten sind sogar die jungen Triebe der Lavendelstauden erfroren.»
Claes nickte widerstrebend. «Aber es gibt viele Gründe, warum einer plötzlich Unsinn redet. Da muss nicht so Unvernünftiges wie Hexerei im Spiel sein.»
«Nicht Hexerei», unterbrach Rosina eifrig, «Hexensalbe. Gekochtes Schweineschmalz mit, ich habe es schon wieder vergessen, ich glaube mit Bilsenkraut. Oder Stechapfel. Vielleicht mit beidem. Lies kennt sich da gut aus, aber das solltet Ihr niemandem erzählen. Ihr wisst, wie die Leute sind.» Dabei vergaß sie, dass auch die Herrmanns genau zu diesen Leuten gehörten. «Aber Euer Sohn hat recht, lassen wir die Sache mit der Salbe einfach mal beiseite. Sie nährt ja lediglich meinen Verdacht. Er hatte uns ein Stück versprochen, das für Spektakel und ein volles Haus sorgen würde. Das kann doch nur bedeuten, dass er darin ein Geheimnis offenbaren wollte. Kann es nicht sein, dass irgendjemand das verhindern wollte?»
«Natürlich kann das sein», rief Christian. «Aber ihn deshalb gleich zu töten?»
Doch er war schon ganz von Rosinas Theorie überzeugt. Ob es an der Stichhaltigkeit ihrer Argumente oder am Glanz ihrer tiefblauen Augen lag, mochte Claes, der die Begeisterung seines Sohnes misstrauisch beobachtete, nicht entscheiden. Ihm selbst schien ja auch, dass sie in dem Jahr, das seit ihrem letzten Besuch vergangen war, noch reizvoller geworden war.
«Naturellement! Wo bleibt deine Phantasie?», rief nun Anne. «Was sage ich da? Phantasie? Das ist doch nur ein Rechenexempel. Und wer weiß», sie klatschte begeistert in die Hände, «vielleicht hat der Tod im Pesthof mit einer Verschwörung zu tun?»
Claes sah seinen Sohn und seine Frau streng an, aber dann krochen die seltenen Grübchen in seine Mundwinkel.
«Ihr beide seid mir wahre Christen. Da wird ein Mensch ermordet, und ihr seid völlig begeistert …»
«Ah, Claes, du hast es gesagt: ein Mensch
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