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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Studentenzeit in Wien, als ich mich zu den Versammlungen der sozialistischen Studenten aufmachte, die sich heimlich trafen. Zu Hause wäre meine Sympathie als Verrat an den konservativen Werten, die von Onkel Heinrich und Tante Else immer wieder hochgehalten wurden, angesehen worden. Die Art, mit der die Frauen in eine abhängige Rolle gedrängt und gezwungen wurden, sich dem Männerregime unterzuordnen, missfiel mir, und endlich hatte ich eine Möglichkeit gefunden, mich im Milieu der Universität mit Gleichgesinnten auszutauschen.
    Meine Eltern waren einfache Leute gewesen, Mutter hatte die Haushaltungsschule besucht und später in Heimarbeit für eine Offenbacher Lederfabrik gearbeitet. Vater war Zimmermann. Als ich im Gymnasium mit sozialistischen Ideen in Berührung kam, vor allem durch einen Jungen namens Albert, öffnete sich für mich eine Welt, zu der ich mich hingezogen fühlte. Nach der Schule hatte mich Albert von Ferne scheu gegrüßt und sich dann immer mehr in meine Nähe vorgewagt, bis er mich eines Tages fragte, ob ich Lust hätte, in Begleitung von ihm und seinem um ein Jahr jüngeren Bruder den Heimweg anzutreten, denn soviel er wisse, hätten wir ein Stück des Weges gemeinsam. Er fragte mich, was ich lesen würde, er hätte von meiner Sitznachbarin gehört, ich würde manchmal unter der Bank in der letzten Reihe ein Buch aufschlagen und mich oft in der Bibliothek aufhalten. Ein Jahr lang hatten wir Zeit, unsere Vorlieben miteinander auszutauschen, und Albert hatte sogar »Das Kapital« von Marx durchgeackert. Zu Schulbeginn im Herbst Sechsunddreißig erschienen er und sein Bruder nicht mehr.Ein Mädchen aus meiner Klasse, das in der Nähe wohnte, erzählte, das Namensschild der Familie sei vom Klingelbrett an der Eingangstüre genommen worden. Erst in den Siebzigerjahren habe ich Albert wieder getroffen. Nachdem wir uns in der Straßenbahn lange verstohlen von der Seite betrachtet hatten, unsicher, ob wir uns ansprechen sollten. Beim Aussteigen kamen wir nebeneinander zu stehen, mit der Frage auf den Lippen, woher wir uns denn kannten, und fielen uns dann mit Gelächter um den Hals. Im Café Museum erzählte er mir von der Flucht der Familie nach England, wo sein Vater mit Hilfe eines Verwandten eine Arbeit in einer Stahlfabrik gefunden hatte. Die Familie musste das Land verlassen, weil sein Vater verdächtigt worden war, die Flucht von sozialistischen Schutzbündlern nach dem Februar 1934 organisiert zu haben. Mehrfach war der Vater eingesperrt und verhört worden, wochenlang habe er im Gefängnis verbracht. Albert hatte im Krieg als Soldat der Britischen Armee an der Landung in der Normandie teilgenommen und war mit seiner Einheit bis an den Rhein vorgestoßen. Nach dem Krieg hatte er sich entschlossen, nach Wien zurückzukehren. Anfangs bereute er es bitter, denn man ließ ihn spüren, dass er ein Fremder war, ein Verräter. An der Universität, wo er Jura studierte, hatte man ihm die Abschlussprüfungen nicht einfach gemacht. Seine Eltern waren in England geblieben, wo es ihnen zwar materiell nicht besonders gut ging, doch Albert erzählte, sie seien in der Arbeitersiedlung mit einem kleinen Reihenhäuschen zufrieden und wollten nicht mehr nach Österreich zurück. Wir haben uns ein paar Mal getroffen, verloren uns nach ein paar Jahren jedoch wieder aus den Augen. Später habe ich in seiner Todesanzeige in der Zeitung gelesen, dass er an Krebs gestorben war. Ich wollte an seinem Begräbnis teilnehmen, bin aber am selben Tag mit Fieber erwacht und konnte nur eine Kerze für ihn ins Fenster stellen.
    Meine Beine sind taub vom langen Sitzen. In meinem Zimmer im Rheinhof lege ich mich immer wieder für eine halbe Stunde auf mein Bett oder versuche, mit dem Rollator ein paar Schritte zu gehen, um die Muskeln zu trainieren und die Gelenke beweglich zu halten. Es hat sich bewährt, einen ausgeglichenen Rhythmus einzuhalten, und ich halte mich an ein tägliches Programm mit Morgengymnastik, Mittagsschlaf und Nachmittagsausfahrt. Nie hatte ich mir vorgestellt, einmal ein Hörgerät zu verwenden, und inzwischen habe ich mich bereits seit fünfzehn Jahren mit den verschiedensten Modellen und Typen auseinandergesetzt und sie benutzt. Die Batterien, die ich alle paar Tage wechseln muss, sind so klein, dass sie mir manchmal aus den steifen Fingern gleiten, bevor ich sie in das winzige Gehäuse einsetzen kann. Meine Hände haben sich seit zwei Jahren sehr verändert, sie laufen ständig rot an, verfärben

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