Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
dann nach Hause ging, wünschte ich mir, ich hätte sie schon immer so erleben dürfen und wäre mit einer lebensfrohen Mutter aufgewachsen.
Nach einigen Monaten raffte ich mich auf und fuhr nach Berlin, mit der festen Absicht, mein Leben zu ändern. Ich konnte für wenig Geld bei Freunden unterkommen, nahm Gelegenheitsjobs an, um mich über Wasser zu halten, und begann eine Schneiderlehre in der Werkstatt von Anna, einer Freundin aus Graz, die nach Berlin ausgewandert war und bereits seit einiger Zeit dort ihre eigene Mode machte, verrückt und originell. Nach drei Jahren und einigen flüchtigen Liebschaften traf ich Phillip auf einer Reise in England, die ich angetreten hatte, um den Ort von Vaters Kriegsgefangenenlager zu suchen. Phillip war gerade mit seinem Kontrabass zu einem Konzert unterwegs, und wir waren in der Untergrundbahn aufgrund des Ungetüms von Instrument, das er im überfüllten Waggon mit sich schleppte, in ein Gespräch gekommen. Er verabschiedete sich mit einer Einladung für das Konzert, als er überstürzt aussteigen musste, weil er fast die richtige Station verpasst hatte. Einige Monate später bin ich dann nach London gezogen. Bald wagte ich meinen Traum von der Selbstständigkeit zu leben, und Phillip hat mich bei der Gründung des Modeateliers unterstützt und mir Mut gemacht, als ich mit einer billigen Einzimmerwerkstatt in einem schäbigen Haus im Osten der Stadt angefangen habe.
Die erste Englandreise hatte ich mit neunzehn Jahren in einem Anfall von Sehnsucht nach Vater angetreten. Er hatte dort zwei Jahre seines Lebens in Gefangenschaft verbracht, über die Mutter und ich nicht viel wussten. Das hatte mich dazu bewogen, Nachforschungen anzustellen, die sich dann über Jahre hinzogen, weil ich wenig erfuhr und entmutigt immer wieder aufgab. Zunächst versuchte ich im Imperial War Museum in London und in englischen Archiven die Namenslisten der ehemaligen Lagerinsassen ausfindig zu machen. Später habe ich mit der österreichischen Botschaft in London Kontakt aufgenommen, die mir auch nicht weiterhelfen konnte. In den deutschen Kriegsarchiven in Freiburg im Breisgau war ebenfalls nichts über den Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen gewesen. Dann habe ich Vaters Wehrstammbuch im Staatsarchiv in Wien gefunden, mit Eintragungen zu den Orten seiner Stationierung, zuerst Wien, dann Frankfurt, kurze Zeit Danzig, Griechenland und am Kriegsende Venlo in Holland, wo er in britische Gefangenschaft geraten war. Mehr ließ sich über den Obergefreiten Max B. nicht herausfinden. Vater schien einigermaßen gut durch den Krieg gekommen zu sein, »Die Engländer haben sich anständig verhalten«, mit diesem Satz zollte er ihnen Respekt, denn er wusste, es hätte auch anders kommen können. Vor einem Monat traf auf eine länger zurückliegende Anfrage unerwartet ein Antwortbrief des Internationalen Roten Kreuzes mit einer Kopie der Meldekarte meines Vaters aus dem Gefangenenlager ein. Sie war unverkennbar von ihm selbst ausgefüllt worden, ich kenne die Schrift von anderen Dokumenten her, auf dem Stempel findet sich der Name eines Dorfes in Hampshire. Ich werde Mutter den Brief zeigen, vielleicht weckt er in ihr Erinnerungen, und ich werde bald eine Reise dorthin unternehmen, um mir die Gegend genauer anzusehen, durch die ich vor zwei Jahren, bei einem Osterausflug mit Phillip auf die Isle of White, gefahren bin.
ICE Basel-Frankfurt Juni 2011
Die Mitreisenden sind freundlich, eine junge Dame hat schon zwei Mal im Vorbeigehen nach mir gesehen und gefragt, ob ich etwas benötige und ob sie mir etwas Gutes tun könne. Das ist der Gewinn der Hilflosigkeit, den ich mit Heiterkeit entgegenzunehmen versuche. Ich besitze manchmal nicht mehr die Aufmerksamkeit, um auf meine Mitmenschen einzugehen, und muss darauf achten, nicht immer gleich Nein zu sagen, wenn mir jemand ein freundliches Hilfsangebot entgegenbringt. Es ist ein früh erlernter Reflex. Als Mädchen hatte ich es vermieden, gut gemeinte Einladungen meiner Mitschülerinnen anzunehmen, da es mir umgekehrt nicht möglich war, jemanden zu mir einzuladen. Tante Else hatte mich in ihrer zurückhaltenden Art wissen lassen, dass sie die Anwesenheit von fremden Menschen in ihrem Reich nicht besonders schätzte. Dann wünschte ich mir meine Mutter zurück, so wie ich sie aus den Jahren meiner Kindheit in Erinnerung hatte, als sanfte Frau, die mich nicht strafte, sondern verständnisvolle Fragen stellte, wenn ich ihr durch meine Streiche Kummer bereitet
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