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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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mir geholfen, das Muster für die Knickerbocker anzufertigen. Darauf posiert Vater neben seinem Fahrrad, die Arbeitstasche unterm Arm, einen Fuß hat er auf das Pedal des schweren Puch-Waffenrades gestützt. Ich werde das Bild mitnehmen und Mutter fragen, ob die Hosen aus ihrer Werkstatt stammten. Zwei Kuverts habe ich mit Aufnahmen der Familie gefüllt, habe die Photographien aus den Alben gelöst. Ich wollte sie aus ihrer bisherigen Umgebung entfernen, in der sie nicht genug wahrgenommen werden, weil auf der selben Seite Bilder eingeheftet sind, die mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Erinnerung geht unter in den Anekdoten, an die sich alle erinnern, und beim gemeinsamen Betrachten wird über manche Personen hinweggegangen, so als hätten sie gar nicht existiert. Ich weiß zum Beispiel wenig über Vaters Großmutter, obwohl sie auf zwei Aufnahmen am Rand einer Gruppe steht oder neben ihrem Mann im Dirndl auf einer Almwiese sitzt.
    Theo hat sich unter der Hausbank verkrochen, weil es dort kühl ist und er, vor der Abendsonne geschützt, alle Viere von sich strecken kann. Er blinzelt von Zeit zu Zeit zu mir herüber, um sich dann seinem leichten Hundeschlaf hinzugeben, manchmal zuckt er im Traum mit den großen Pfoten. Ich habe ihn von einer alten Dame bekommen, die in der Nachbarschaft ihre Welpen zum Verschenken angeboten hatte, und ich konnte nicht widerstehen. Er sah bereits als junger Hund lustig aus, mit den Schlappohren und seinem grauweiß gescheckten Fell, das über die Jahre immer struppiger geworden ist. Die weiße Brust, die weißen Pfotenspitzen lassen ihn wie einen etwas verwahrlosten Kellner aussehen, der zwar seine Livree trägt, in seiner Zerstreutheit jedoch vergessen hat, die Arbeitskleidung zu bügeln. Theo weicht heute nicht von meiner Seite, weil er, wenn ich meinen Koffer packe, ahnt, dass ich wieder für ein paar Tage aus seinem Wahrnehmungsbereich verschwinden werde, und manchmal frage ich mich, ob er eine Vorstellung von der Zeit hat, nach der ich dann wieder vor der Gartentüre stehe und mich kindlich über seine Luftsprünge und über sein Japsen freue, mit ihm herumtolle, bis er sich beruhigt hat. Sicher hätte Theo von mir nie diese Aufmerksamkeit erhalten, wenn die Zwillinge da wären, möglicherweise ist er auch zu einem Ersatz für die Kinder geworden. Einen Hund wollte ich schon als kleines Mädchen, doch ich hatte nie einen bekommen, und so waren die Wellensittiche mein Trost gewesen, denen es nicht so viel ausmachte, wenn niemand zu Hause war, weil sie sich im Käfig gegenseitig ihr Gezwitscher erwiderten. Vielleicht war meine Kindheit in Floridsdorf glücklich, vor Vaters Unfall, vor dem Auszug mit Mutter, in den Monaten und Jahren, die in ihrer Alltäglichkeit vergingen, mit Kindergarten und Schule, mit Baden in der Donau im Sommer, mit Eislaufen, Spaziergängen zu dritt am Flussufer entlang, mit Praterbesuchen am Wochenende und Radtouren übers Land. Im Winter blickte ich aus meinem Zimmerfenster auf die Zweige der riesigen Platane, auf denen die Krähen hockten, sich neckten und mich dazu animierten, Bleistiftskizzen von ihnen anzufertigen. Das Zeichnen war für mich eine willkommene Ablenkung an den langen Nachmittagen, die ich mit meinen Hausaufgaben verbrachte, und es bewahrte mich davor, in Trübsinn zu verfallen. Stundenlang habe ich über den Vorbereitungen der nächsten Schularbeit gebrütet, ohne von Mutter oder Vater dazu aufgefordert worden zu sein, denn ich wollte die besten Noten haben, wollte von den Lehrern gelobt werden. In den Jahren am Gymnasium begann sich, unbemerkt von meinen Eltern, eine Angst in mir breitzumachen, wenn ich einmal eine schlechtere Arbeit schrieb oder eine Ermahnung erhielt, die mich dann noch mehr an den Schreibtisch zwang, um Vokabeln für den nächsten Tag zu pauken oder Rechenbeispiele zu lösen. Abends ging ich oft zur Alten Donau hinunter, die sich in der Nähe unseres Wohnhauses befand, und verbrachte diese Zeit allein, streifte umher, um zu sehen, ob nicht Cäsar, die Nebelkrähe, die ich einmal schwer verletzt vom Straßenrand nach Hause getragen und gemeinsam mit Vater gesund gepflegt hatte, irgendwo zu finden war. Der große Vogel, über dessen Aufenthalt in der Wohnung sich Mutter nicht besonders gefreut hatte, war erst nach einem halben Jahr wieder flugfähig gewesen und hatte eine zunächst scheue, aber dann doch immer vertraulichere Beziehung zu Vater und mir entwickelt. Oft hockte Cäsar in einer offenen Kiste auf dem

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