Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
sie wolle ein Kleidungsstück schnell zu Ende bringen, dann hielt sie sich nicht mit in ihren Augen unnützen Detailarbeiten auf, die sie zu viel Zeit kosten würden. Obwohl mir diese Hosen viel zu weit waren und um meine Oberschenkel schlotterten, trug ich sie selbstbewusst, auch wenn meine Mitschüler mich auslachten, als ich damit in der Klasse auftauchte. Mit der Zeit sind diese Hosen zu den absolut unentbehrlichen Lieblingsstücken aufgestiegen. Es hatte für mich mit Auflehnung gegen die Ordnung zu tun, wenn ich diese Hosen trug. Wenn ich mit Vater auf dem Fahrrad gemeinsam an der Donau entlang, durch die Außenbezirke Wiens oder hinauf auf den Kahlenberg unterwegs war, Vater mit dem schweren Rad, ich mit meinem goldglänzenden Damenrad, zog ich gern diese Hosen an, band sie um die Knöchel mit einem Band zusammen, damit der Stoff nicht in der Antriebskette hängen blieb. Ich habe dann bald ein weiteres Paar dieser Hosen bei Mutter bestellt, das war ihr wiederum nicht recht, weil sie bemerkte, dass ich Röcke und Kleider nicht mehr gerne trug. Ich wollte nicht länger nur ein liebes Kind sein, sondern auf einer Wiese ein Rad schlagen können, Handstände üben und mich auf die Teppichstange mit dem Kopf nach unten hängen können, ohne mich darum kümmern zu müssen, ob die Unterhosen richtig saßen. Langsam streifte ich die verordnete Puppenhaftigkeit ab, und von da an beteiligte ich mich an den Vorarbeiten für die Kleidungsstücke, die Mutter für mich ausgedacht hatte. Wir konnten uns nach heftigen Auseinandersetzungen, in denen ich ihr androhte, niemals anzuziehen, was sie mir schneidern wollte, dann doch auf Kleidungsstücke einigen, die etwas praktischer ausfielen als von Mutter ursprünglich geplant. Über die Tatsache, dass ich mir Mutters Freizeitbeschäftigung zum Beruf erkoren hatte, begann ich mir erst vor zwei Jahren Gedanken zu machen. Als ich in Berlin bei Anna mit der Lehre anfing, kam mir zwar in der Werkstatt alles vertraut vor, doch ich kam nicht auf die Idee, eine Verbindung zwischen meiner Vergangenheit und dem, was ich machen wollte, zu sehen. Gestern habe ich am Telefon mit Mutter darüber gesprochen und mich auch bei ihr für die hilfreiche Vorschulung bedankt, wie ich es genannt habe. Sie musste zuerst lachen, hat sich dann aber über den späten Dank gefreut. Unser Gespräch hat länger gedauert als sonst üblich, und die Begeisterung, die Mutter im Laufe ihrer detailreichen Erinnerungen an einige Kleider entwickelte, sprang auf mich über und lässt hoffen, dass die Begegnung in Bergen-Enkheim harmonischer als sonst verlaufen könnte. Obwohl sie mir sonst schnell vorwirft, ich würde jammern, konnte ich ihr gestern von den Härten erzählen, die ich zu Beginn meiner Selbständigkeit hier in London vorgefunden habe. Mutter hat die erste kleine Werkstatt in der Whitechapel Road nie betreten und war erstaunt zu hören, dass ich mit schlechten Maschinen und in kaum heizbaren Räumen zu arbeiten angefangen hatte. Ich wollte mir damals von Phillip kein Geld leihen, denn abhängig von ihm zu sein, wäre mir unerträglich gewesen. Nach zwei Jahren, die ich mich mehr schlecht als recht mit undankbaren Änderungsarbeiten über Wasser gehalten habe, begann ich mir in zahlreichen Arbeitsstunden und nebenbei eine Kundschaft aufzubauen, die meine Entwürfe schätzte und die sich ihre Kleider bei mir schneidern ließ. Irgendwann waren dann die Räume zu klein geworden, ich konnte stundenweise eine Aushilfe einstellen, die bei der größer werdenden Nachfrage nach Flickarbeiten half, und konnte mir mehr Zeit für meine Entwürfe nehmen. Auf der Suche nach einem geeigneten Atelier kam dann die Idee, die alte Fabrik, die Phillip und ich gemeinsam mit Peter, einem befreundeten Architekten besichtigt hatten, umzubauen und dort Wohnungen und Werkstätten einzurichten. Peter hatte sich seit längerem schon für das Objekt interessiert und wollte mit Freunden seine Vision einer Stadtoase verwirklichen. Er versuchte, uns davon zu überzeugen, dass die Zukunft einer Stadt nicht in Neubauten lag. Dabei konnte er sich stundenlang mit Phillip streiten, der ein Anhänger neuer, energiesparsamer Siedlungen am Stadtrand war. Nach abendlangen Gesprächen hatte ich zunächst den Eindruck, es handle sich bei Peters Ideen um die utopischen Hirngespinste eines Architekten, der in der üblichen Lebenskrise um die fünfzig steckte. Nach den ersten Zusammenkünften mit ihm bemerkte ich, wie stark ich mich selbst daran
Weitere Kostenlose Bücher