Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Joannina, die in ihren grausamen Einzelheiten den Geschichten glich, die ich aus Österreich kannte. Man redete nach dem Krieg in Wien nicht über die vielen Deportierten und Toten, über die Schuldigen und die Opfer, und ich wusste einiges von meiner jüdischen Freundin Sarah, aus deren Familie niemand überlebt hatte. Die Orte des Todes ihrer Eltern und Großeltern trugen die Namen von Konzentrationslagern im Deutschen Reich. Sarah wohnte vor dem Krieg in einer großzügigen Wohnung an der Ringstraße, ihr Vater war Anwalt, die Mutter arbeitete in einem Archiv, der Onkel, Bruder der Mutter, ein Kunstmaler, belegte dort zwei Zimmer. Sarah selbst wurde bei einer Tante in England untergebracht und besuchte dort die Schule. Ihre Eltern haben die Gefahr erkannt und verschickten sie rechtzeitig, sich selber haben sie jedoch nicht mehr in Sicherheit bringen können, nur ihr Onkel konnte durch Vermittlung aus der Schweiz nach Amerika ausreisen.
Der Nachmittag war schnell vergangen, und nach einem Spaziergang durch das Dorf kehrten Alexander und ich zur Terrasse zurück, um bei einem Glas Wein unser Gespräch fortzusetzen. Zuletzt, als der Abend sich langsam durch einen kühlen Luftzug von den Felsen her bemerkbar machte, erzählte Alexander von seiner Flucht aus Griechenland kurz nach Kriegsende. Die Zustände waren immer chaotischer geworden und die ehemaligen Partisanenverbände hatten sich gegenseitig bekämpft. Niemand wusste, wer im Dorf als Nächstes sein Leben verlieren und welche Partei die Oberhand gewinnen würde. Die rechten und linken Partisanenparteien begannen nach Abzug der Besatzer das Land in erbarmungslosen Kämpfen zu zerfleischen. Alexander hatte Griechenland mit Hilfe einer Tante, sie hatte auch bei den Partisanen mitgekämpft, verlassen. Er schloss sich als Begleiter einem von ihr organisierten Transport von Kindern in die Tschechoslowakei an. Von dort reisten einige Kinder in die Sowjetunion weiter. Eine Transporthelferin hatte Alexander erzählt, dass Funktionäre der linken Partisanenpartei die Kinder ihren Müttern weggenommen hätten, damit sie bei den Genossen in der Sowjetunion aufwachsen und Griechenland später befreien konnten. Alexander hatte sich dann auf der Fahrt durch Jugoslawien abgesetzt, nachdem er den Eindruck hatte, sie seien einfach wie Vieh zusammengetrieben worden und würden ins Verderben transportiert werden.
Ich war, als Alexander das erzählte, verblüfft und musste an Max denken und daran, wie ich ihm damals ungläubig zugehört hatte, als er von seinem Kindertransport in die Sowjetunion berichtet hatte. Ein Großonkel hatte Alexander in Graz, wo er nach einem langen Marsch zu Fuß durch Jugoslawien und über die grüne Grenze gelandet war, bei sich aufgenommen. Dort fand er einige Jahre Unterschlupf und Arbeit, konnte in dessen Gemüsehandel mithelfen und später, als er endlich eine offizielle Bewilligung für den Aufenthalt erlangt hatte, die Matura nachholen und Medizin studieren. Auf einem Kongress in Davos hatte er seine Schweizer Frau kennengelernt. Nach der Hochzeit fand er eine Arbeit in einer Höhenklinik in den Graubündner Bergen, er musste jedoch sämtliche Prüfungen wiederholen, weil sein Österreichischer Studienabschluss nicht anerkannt worden war. Erst nach dem Tod seiner Frau vor elf Jahren sei er wieder nach Kastraki gekommen, wo er jedes Frühjahr für einige Wochen im Haus seiner Cousine und deren Mann leben würde. Er schätze besonders den Kontakt zu deren Kindern und Enkelkindern, denn er und seine Frau seien kinderlos geblieben.
Alexander und ich haben uns nach diesem Treffen in Griechenland regelmäßig geschrieben, und ich bin ein paar Monate später das erste Mal nach Basel gefahren, um ihn zu besuchen. Es folgten gemeinsame Ferien in Frankreich und Italien und nach fünf Jahren, in denen wir öfter darüber gesprochen haben, ob wir nicht unsere letzten Jahre miteinander verbringen sollten, habe ich dann, nachdem ich gut in seinem Freundeskreis aufgenommen worden war, Wien verlassen. Zu Beginn der Neunzigerjahre sind wir dann ins »Grüne Haus« gezogen.
London Juni 2011
Die Wärme des Abends hat die letzte Nässe auf den Holzbrettern der Terrasse aufgesogen, und ich werde die Vorbereitungen für das Wochenende hier im Freien erledigen. Den Koffer für die Reise habe ich bereits im Hausflur deponiert, doch ich will noch die alten Photographien, die ich aus den Schachteln im Büro herausgekramt habe, sortieren und einpacken. Eine davon hat
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