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Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman

Titel: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luchterhand
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Balkon und fing an, Mutters Pflanzen zu verwüsten. Er nistete schließlich im Buchsbaum, wo er sich durch Zurechtzupfen der oberen Zweige einen bequemen Platz schuf, von dort blickte er über das Geländer und begann sich laut mit seinen Kollegen zu unterhalten, die in Scharen im Geäst der Platanen saßen. Cäsar liebte Vater besonders, bei ihm landete er auf der Schulter, zupfte ihn am Ohrläppchen, beide sahen dann sehr zufrieden aus, mich machte das ein wenig eifersüchtig. Vater erzählte, die Krähen würden in manchen Ländern verehrt, weil sie die Seelen von Verstorbenen trügen, die auf diese Art bei den Menschen weiterlebten. An wen er dabei dachte, wenn er voll Hingebung den Vogel im Park fütterte, nachdem wir ihn ausgewildert hatten, verriet er mir nicht. Cäsar war nach den ersten Tagen in Freiheit zuerst in Begleitung anderer Krähen aufgetaucht, später seltener und dann gar nicht mehr. Vater und ich mutmaßten, er habe sich irgendwo mit einer neuen Kolonie niedergelassen und sei mit der Brutpflege beschäftigt, die ihm keine Zeit für Ausflüge zu seinen Zieheltern lassen würde. Vater hat mir damals die Geschichte einer verletzten Krähe erzählt, die er eine Zeitlang mit seinen Kollegen in der Lokomotivfabrik gepflegt hatte. Sie hatten dem Tier hinter einer der großen Hallen einen Verschlag gebaut und es gefüttert. Eines Tages war der Käfig leer und Vater ist sich nicht sicher gewesen, ob die Krähe von jemandem freigelassen worden war oder ob der Fuchs sie geholt hatte. Mutter sagte später, Vater hätte damals einen Arbeitskollegen im Verdacht gehabt, die Tür zum Vogelkäfig geöffnet zu haben, weil er sich an Vater rächen wollte, der während des großen Streiks im Jahre1950 , gemeinsam mit anderen aus der Partei, als Posten an den Einfahrtstoren der Fabrik aktiv gewesen war, um die Männer daran zu hindern, ihre Arbeit wie gewohnt aufzunehmen. Die Kommunisten waren damals gegen die Teuerungen und den unzureichenden Lohnausgleich angetreten und selbst Mutter war mit ein paar Nachbarinnen auf den Ballhausplatz zum Demonstrieren gefahren, wo sich eine riesige Menschenmenge zusammengefunden hatte. Die Streikenden in der Fabrik hätten es bitter gebüßt, denn Vater und die anderen waren von Schlägertruppen der Sozialisten schwer verprügelt worden, die angekarrt wurden, um den Streik zu verhindern. Die Zeitungen hätten damals gegen die Kommunisten gehetzt, denn sie standen unter Verdacht, mit den russischen Besatzern einen Putsch vorzubereiten, um eine Volksrepublik nach dem Vorbild der Tschechen zu errichten. Vater habe sich nach der Schlägerei völlig aus der Politik zurückgezogen, enttäuscht über die Auseinandersetzung zwischen den Kommunisten und den Sozialisten. Nach den Erfahrungen im Vierunddreißigerjahr hätten sie seiner Meinung nach zusammenstehen und sich nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen sollen. Mutter war, als sie davon erzählte, erstaunt gewesen, dass ich das alles zum ersten Mal hörte. Im gymnasialen Geschichtsunterricht war über diesen Streik und seine Hintergründe kein Wort gefallen, und ebenso hatte der Bürgerkrieg keine Erwähnung gefunden, denn meist hatte der Unterrichtsstoff mit dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie geendet. Den Wirren der Zwischenkriegsjahre und Nachkriegszeit war keine Bedeutung beigemessen worden. Das hat dazu beigetragen, dass mir die politische Spaltung, die in Österreich bis in die Gegenwart hinein Auswirkungen hat, nie wirklich bewusst geworden ist.
    Mutter wollte, dass ich eine gute Berufsausbildung erhalte, und am liebsten wäre ihr gewesen, wenn ich Ärztin geworden wäre, doch dagegen habe ich mich instinktiv gewehrt. Ich habe Betriebswirtschaft studiert und dann einen zweiten Beruf erlernt, der zwar in ihren Augen kein Geld und Renommee mit sich bringt, doch mit zunehmendem Erfolg hat sie meine Entscheidung respektiert und hat mir auch Komplimente für meine Entwürfe gemacht. Die schwierigen Verhältnisse, die sie während ihres Lebens immer wieder meistern musste, haben sich Mutter derart eingegraben, dass sie nie untätig sein konnte. Es gab selten Momente der Ruhe und des Müßiggangs, denn Mutter war dauernd mit irgendetwas beschäftigt, in der Küche, im Garten, im Keller, an der Nähmaschine, auf dem Dachboden, immer musste etwas eingekocht, aufgehängt, zusammengelegt, gegossen, geschnitten, geflickt, gekehrt oder geschrubbt werden. Früher dachte ich, ich könne Mutter eine Freude machen, wenn ich sie in

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