Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Schlafsack und Zelt ein leichter Holzkocher mit Aluminiumtöpfen, für den Fall der Fälle. Meine Fluchtszenarien bestanden aus ungenauen Vorstellungen von Krieg, brennenden Häusern, rollenden Panzern, marschierenden Truppen, Belagerung. Wenn ich in meine Küchenschränke sah, überlegte ich mir, wie lange ich mit den Grundnahrungsmitteln auskommen würde, und musste mich oft zur Vernunft aufrufen, nicht zu viel an Zucker, Mehl und trockenen Hülsenfrüchten einzukaufen. Dann gab es wieder Zeiten, in denen ich nicht an Katastrophen dachte, mich unbehelligt fühlte. Doch bereits eine Photographie aus einer Kriegsregion in der Tageszeitung konnte in mir eine ganze Vorstellungskette von Bedrohungen in Gang setzen. Ich habe erst vor ein paar Jahren angefangen, mir stabile Möbel zu kaufen, ein schweres Sofa, den großen Schrank, und langsam begonnen, mir eine Bibliothek aufzubauen, weil ich alles als unnötigen Ballast empfunden habe, den man ohnehin nicht mitnehmen könnte, wenn es dann so weit sein würde. Vor zwei Tagen träumte ich von Heerscharen von kleinen Luftschiffen, die den Himmel verdüsterten, weit draußen über dem Meer. Sie schossen auf die Siedlung in der Bucht, auf die ich hinabblicken konnte, ohne Lärm zu verursachen. Ich sah Häuser in Flammen aufgehen und beobachtete emotionslos das Geschehen, als würde ich die Bestätigung meiner Ahnung, dass es zu einer Katastrophe kommen würde, miterleben. Als ich aufwachte, habe ich mich seltsam gefühlt, so als ob ich dieses Szenario nicht hätte überleben dürfen. Nur mühsam konnte ich in den neuen Tag und in mein gewohntes Leben hineinfinden. Dieser oder ähnliche Träume tauchen von Zeit zu Zeit in den Nächten auf und verunsichern mich. Oft bin ich die Einzige, die das Geschehen mitverfolgt oder überlebt, niemand ist außer mir Zeuge, niemand steht mir bei.
Mit Vaters Vorstellungen einer gerechteren Gesellschaft bin ich aufgewachsen. Irgendwie hatte ich stets den Eindruck, er würde auf etwas warten. Ob er mit einer Revolution oder mit einem neuen Krieg rechnete, darüber hat er nie gesprochen. Der Krieg war gerade fünf Jahre vorbei, Vater war seit drei Jahren aus der Gefangenschaft zurück, als mich meine Eltern gezeugt haben, und überall in der Stadt waren noch die Lücken sichtbar, welche die Bomben hinterlassen hatten, und an den Fassaden der Gebäude fanden sich noch Markierungen für die Luftschutzkeller und Einschusslöcher. Was von all dem sich in meinem Inneren eingegraben hat, kann ich nicht sagen, doch ich werde Mutter an diesem Wochenende darum bitten, mir mehr aus meiner Kindheit im Nachkriegswien zu erzählen.
Hampshire, Kriegsgefangenenlager 41, Dezember 1946
Max saß wie angenagelt auf seinem Stuhl im Esssaal des Lagers und konnte den Worten nicht trauen, die der Kommandant gerade gesagt hatte. Zwanzig Männer waren eingeladen, Weihnachten bei Familien, die gerne ein Zeichen des Friedens setzen würden, zu feiern. Jeder sollte sich überlegen, was er mitbringen konnte, Selbstgebasteltes, kleine Dinge, ansonsten wird gepflegtes Äußeres erwartet, keine Gespräche über Politik, keine Fraternisierungsversuche, das verstehe sich von selbst. Der Kommandant hatte eine Liste von Gefangenen zusammengestellt, natürlich diejenigen mit der besten Führung. Von Entlassung oder Auflösung des Lagers war nicht die Rede, nicht einmal eine kleine Andeutung in diese Richtung, aus der die Männer Hoffnung geschöpft hätten, im nächsten Jahr Weihnachten zu Hause zu verbringen, wo immer das sein mochte, und wie immer es dort aussehen würde. Alle hatten die Ankündigung aufmerksam verfolgt, saßen schweigend da und sahen sich ratlos an, einige lächelten verlegen. Schließlich stand Sebastian, ein aus Münster stammender Geschichtsstudent auf und räusperte sich. »Ich wage, ohne mich vorher einer Mehrheit versichert zu haben, im Namen der hier anwesenden Gefangenen einen Dank auszusprechen.« Mit einem scheuen Blick in die Runde setzte er sich wieder an seinen Platz. Daraufhin richteten mehrere Gefangene ein lautstarkes Danke nach vorne. Eine Bewegung durchlief den Raum, Stühle knarrten, einige fielen zu Boden, umgestoßen durch ungelenke Männerbeine, bis alle in strammer Haltung, das Gesicht zum Kommandanten ausgerichtet, standen und es absolut still war im Raum.
Einige Soldaten, die erst kurz vor Kriegsende im April oder Mai gefangen genommen worden waren, hatten von Bombenabwürfen über Dresden und von Feuerstürmen erzählt, die ganze
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