Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
hinderte, über das Übliche hinauszudenken und an neue Möglichkeiten zu glauben. Ich hatte mich schon längst mit dem Lärm in den Wohnquartieren der Innenstadt abgefunden, fluchte nur mehr innerlich über das Verschwinden kleiner Grünflächen in den Straßen. Irgendetwas in mir ließ mich ständig an die Frage stoßen, ob es realistisch sei, sich als Stadtbewohner anderes wünschen zu dürfen, als Zeuge einer schleichenden Zersetzung von kleinräumigen Nachbarschaften zu sein. Bei der ersten Besichtigung des Fabrikgeländes, als ich mitten auf einem großen Platz vor einem aus roten Ziegeln gebauten, verwinkelten Gebäude mit hohen, zerbrochenen Fenstern stand, kamen mir dann noch mehr Zweifel. Das gesamte Anwesen erinnerte mich in seiner Kahlheit und Überdimensionalität an die Lokomotivfabrik, vor deren Zaun ich als Kind manchmal auf Vater gewartet hatte, bis seine Schicht zu Ende war und er verschwitzt aus dem großen eisernen Gittertor kam. Erst als ich mir vorzustellen versuchte, welche Pflanzen man auf dem Platz setzen könnte, die an den Mauern entlang in die Höhe ranken würden, begann die Fabrik ihren abweisenden Charakter zu verlieren. Inzwischen sind Jahre vergangen, das Haus ist mit Kletterpflanzen bewachsen, die Holzbretter der Balkone und Terrassen haben durch den Regen eine silbrige Patina erhalten. Der Garten mit den unterschiedlichen Parzellen sieht chaotisch aus, weil jeder der Anwohner seine Ideen verwirklicht, aber das ist nicht schlimm, im Gegenteil. Vom kurz geschnittenen Rasen bis zum hohen Schilf findet sich auf den dreitausend Quadratmetern alles. Als der Umbau schließlich begann, versuchten wir, die Räume vernünftig untereinander aufzuteilen, und da sich niemand für den Keller interessierte, plante ich dessen Sanierung als Lager für Stoffe und Requisiten des Ateliers. Bei der ersten Begehung mit Peter machte ich Notizen, maß die Größe der Räume und hatte in meiner Vorstellung bereits Wände herausgerissen und die Fenster vergrößert, die über Kopfeshöhe nur spärlich das Tageslicht hereinließen. Ich begann mich mit der zukünftigen Einrichtung des Kellers zu beschäftigen, blätterte zu Hause in Katalogen, um die passenden Regale und den geeigneten Bodenbelag zu finden, der die Kälte abhielt.
Bei meinem nächsten Besuch, eine Woche später, war ich allein und nachdem ich die ersten Stufen über die Treppe ins Dunkel hinabgestiegen war und den alten schwarzen Schalter für das Licht am unteren Ende der Treppe drehte, bemerkte ich den dumpfen, feuchten Geruch, der mich unweigerlich mit sich zu ziehen begann, mitten hinein in meine Kindheit. Wenn ich als Schulkind allein in den Keller im Speiser-Hof gegangen bin, hatte ich fürchterliche Angst, dort eingesperrt oder verschüttet zu werden. Bewaffnete Männer könnten aus den dunklen Abteilen hervorbrechen und sich auf mich stürzen. Sie würden mich in einem kalten, feuchten Verlies gefesselt am Boden liegen lassen, mich quälen und niemand würde erfahren, wo ich bin. Ich habe mich immer davor gesträubt, das Fahrrad in den hintersten Kellerteil zu tragen, obwohl ich oft die Starke spielte und mir nicht helfen lassen wollte, weder vom Vater, noch von Mutter und schon gar nicht von den Buben im Hof. Ich musste jedesmal meine Angst überwinden, und wenn ich dann endlich das Schloss des Kellerabteils wieder verriegelt hatte, stürzte ich panisch und mit stockendem Atem die verwinkelten Gänge entlang, um mit pochendem Herzen erleichtert aus der Finsternis aufzutauchen. Ich habe als Kind nie Gewalt erlebt, weder in der Schule noch auf der Straße, ich habe keine brutalen Geschichten gelesen und den ersten Fernseher hatten die Eltern erst zu meinem vierzehnten Geburtstag angeschafft. Seit dem Schulbeginn hatte ich mehr und mehr meine Mädchenhaftigkeit abgelegt, fühlte mich sicherer, wenn ich Hosen trug und flache Schuhe. Das hat sich bis heute erhalten. Ich kann meinen Kleiderschrank durchsehen und werde außer Hosen in allen Variationen, die in ihrer Passform die Figur kaschieren, nicht viel finden. Ich wollte immer fliehen können, für jede Situation gerüstet sein, auch trug ich, wie heute noch, immer den Reisepass in der Tasche, man kann nie wissen. Ich wollte vorbereitet sein für lange Märsche, immer etwas dabei, das mich im Notfall wärmen konnte, eine robuste Jacke, einen Pullover. Als ich mit neunzehn von zu Hause auszog, habe ich angefangen, mir nützliche Dinge zuzulegen, in meinem Depot fand sich neben
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