Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
Doch, ja, die Zeit lief wieder. Er betrat das Gebäude. Blenda Johnson saß in dem kleinen Empfang, sie stand sofort auf, als sie ihn sah.
    »Hast du dich geschnitten?«
    »Nein.«
    »Du blutest.«
    Schnell fuhr sich Frank mit einem Finger unter der Nase entlang und stellte fest, dass das Papier fort war. Er leckte sich die Lippen.
    »Das macht nichts.«
    »Doch, das macht etwas. So kannst du nicht herkommen, das ist dir ja wohl selbst klar.«
    Blenda Johnson holte ein Pflaster heraus, das sie in zwei schmale Streifen schnitt, und ging zu Frank.
    »Hast du immer Pflaster und Schere bereitliegen?«, fragte er.
    »Ich habe alles, was ein Übermittler braucht. Übrigens, herzlichen Glückwunsch.«
    »Danke.«
    Sie befestigte den Streifen über der Wunde, und Frank wurde ganz weich in den Knien, als er spürte, wie ihre vorsichtigen, aber entschlossenen Finger sein Gesicht berührten.
    »Danke«, wiederholte er.
    Blenda Johnson lachte. Frank gefiel das Lachen. Eigentlich hatte er nicht viel übrig für Lachen, auch nicht für sein eigenes, doch ihres gefiel ihm.
    »So, jetzt bist du hübsch, Frank Farrelli«, sagte sie.
    »Du auch.«
    »Werd’ nicht frech.«
    Frank ging hinauf in den zweiten Stock, klopfte an und wurde hereingelassen. Die Kommission, bis auf den Sheriff, drückte ihre Zufriedenheit darüber aus, dass er so schnell gekommen war, ein Zug, der ihnen gefiel. An Ort und Stelle zu sein. Bereit. Wichtige Eigenschaften für einen Übermittler. Der Pfarrer stellte sich ans Fenster und legte die Hände auf den Rücken.
    »Was meinen Sie, warum gibt es so viele Unfälle hier in Karmack?«, fragte er.
    »Vielleicht weil so viele noch nie das Meer gesehen haben«, antwortete Frank.
    Der Pfarrer drehte sich langsam um, tauschte einen schnellen Blick mit dem Arzt, bevor er sich wieder Frank zuwandte.
    »Das müssen Sie mir näher erklären.«
    Frank konnte selbst nicht sagen, warum er ausgerechnet diese Antwort gegeben hatte. Er hätte alles Mögliche antworten können, weil der Steinbruch geschlossen worden war, weil die Züge hier nicht mehr hielten, weil die Jobs verschwunden waren, dass die Leute mit der Zeit immer gleichgültiger wurden, doch stattdessen hatte er diesen Unsinn vom Meer gesagt.
    »Es war wohl eher als eine Art Gleichnis gedacht, Sir.«
    »Das müssen Sie mir auch näher erklären.«
    Frank wusste nicht, was er sagen wollte, und er spürte, wie dieses verdammte Pflaster auf der Oberlippe juckte.
    »Ich meine nur, dass wir schön brav hier in Karmack bleiben müssen. Wir …«
    Zum Glück wurde er vom Schneider unterbrochen, einem kleinwüchsigen älteren Herrn namens Joe Henderson jr., der nie ein Maßband benutzte. Er hatte den absoluten Blick, ein Erbe seines Vaters, der das Geschäft A. H. Shoe Repair in den Dreißigerjahren gegründet hatte. Nach dem Krieg weitete er seine Tätigkeit auch auf Lederjacken und Handschuhe aus. In den Sechzigerjahren erlebte der Laden einen gehörigen Aufschwung, als dort handgenähte Sandalen und Ledergürtel für die Hippies hergestellt wurden. Doch damit war es schnell wieder vorbei, und in den Siebzigern begann der Abstieg. Die Kunden verschwanden. Die Jugendlichen verschwanden. Zum Schluss wurden nur noch schwarze Anzüge nachgefragt, und einen schwarzen Anzug kauft man bekanntlich nur einmal im Leben. Joe Henderson jr. musterte Frank, der mit herabhängenden Armen stillstehen musste, ging zweimal um ihn herum, bevor er sich zurückzog, ohne ein Wort gesagt zu haben, er hinterließ nur einen Geruch nach Schuhcreme und Handsalbe.
    »Haben Sie eigentlich mal das Meer gesehen?«, fragte der Arzt.
    Frank schüttelte die Arme und wusste nicht so recht, wo er sie lassen sollte.
    »Nein. Ich habe nur den Fluss gesehen.«
    »Dann fürchten Sie also, dass Ihnen auch ein Unglück zustoßen könnte? Wenn Sie an Ihr Gleichnis glauben.«
    »Daran habe ich noch nie gedacht.«
    »Wieso nicht?«
    »Ich nehme es, wie es kommt.«
    »Ja, genau das haben Sie ja gemacht. Es nehmen, wie es kommt. Haben Sie sich geschnitten?«
    Frank verfluchte den scharfen Schnitt unter der Nase, den offenbar jeder bemerkte, er machte ihn lächerlich.
    »Ich würde das nicht gerade einen Unfall nennen«, sagte er.
    »Ihre Hände zittern doch wohl nicht, Farrelli?«
    »Ganz und gar nicht.«
    Frank zeigte seine Hände. Ihm war unwohl zumute. Konnten sie ihre Meinung noch ändern, im letzten Moment, und den Posten einem anderen geben? Allein der Gedanke daran ließ Frank verbittert und rachsüchtig

Weitere Kostenlose Bücher