Der Sommerfaenger
Klausur für dieses Semester versäumte. Und nicht nur die.
Sein Studium war vorbei.
Er würde woanders und unter einem anderen Namen nicht daran anknüpfen können, weil nichts ihn mit Lukas Tadikken in Verbindung bringen durfte.
Frau Roosen begann ein Gespräch mit der Frau am Fenster, die zunächst unwillig antwortete und sich dann in ihr Schicksal ergab und den Laptop zuklappte. Luke erfuhr, dass sie Unternehmensberaterin und auf Dienstreise war.
»Unternehmensberaterin.«
Frau Roosen ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen wie jemand, der Berufe sammelt und endlich wieder einem begegnet ist, den er noch nicht kennt.
»Das ist bestimmt mit enormer Verantwortung verbunden.«
Die Unternehmensberaterin lächelte gequält und schob ihren Stuhl zurück, um sich noch einen Kaffee zu holen. Frau Roosen schien kurz zu überlegen, ob sie ihr das abnehmen sollte, doch das Klingeln des Telefons enthob sie der Entscheidung.
Erleichtert sah die Unternehmensberaterin ihr nach, wie sie davoneilte. Sie lächelte Luke zu. Luke lächelte zurück.
Und wenn sie von Kristof gekauft war?
Er beugte sich mit geheucheltem Interesse über die Zeitung, die jemand auf seinem Tisch hatte liegen lassen.
In Wirklichkeit las er keine einzige Zeile, denn er war damit beschäftigt, sich seine neue Identität einzuprägen. Irgendwann hatte er sie sich zusammengebastelt. Für den Notfall. Name. Alter. Geburtsdatum. Geburtsort. Name und Alter der Eltern. Keine Geschwister. Kindergarten. Schule. Abitur.
Er hatte sich für den Namen Gunnar Grothkamp entschieden, einen von dreien, für die er sich Papiere besorgt hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er klang wie das Pseudonym eines Klatschreporters.
Gunnar Grothkamp.
Er hatte sich im Telefonbuch bedient. Bei aller notwendigen Phantasie sollte man so nah wie möglich an der Wirklichkeit bleiben. Das hatte er von Maurice gelernt.
Gunnar Grothkamp. Sohn von Friedhelm Grothkamp und Ella Grothkamp, geborene Riedberg. Geboren und aufgewachsen in Hagen in Westfalen, zuerst Selbecker Straße im Stadtteil Eilpe, dann Wupperstraße in Wehringhausen. Glückliche Kindheit. Zwei Jahre Kindergarten. Grundschule.
Wie war der Name der Grundschule gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Bis zum Abitur auf dem Heinrich-Heine-Gymnasium in der … Heinitzstraße?
Gunnar Grothkamp. Selbecker Straße. Friedhelm. Ella. Ried … berg …
Luke schob den Stuhl zurück, um noch einmal zum Büfett zu gehen. Ihm rauchte der Kopf und er fragte sich, ob er die Daten jemals in seinen Schädel kriegen würde. Er sah Kristofs Gesicht vor sich und hasste ihn mit aller Inbrunst.
*
Imke gab auf. Seit zwei Stunden versuchte sie, ihre Tochter zu erreichen, doch sie wurde jedes Mal von ihrer Mailbox abserviert. Nach der ersten Nachricht hatte sie keine weiteren hinterlassen. Jette konnte sehen, dass und wie oft sie angerufen hatte. Sie sollte sich gefälligst melden.
Sie wandte sich wieder dem Computer zu. Saß da, die Finger auf der Tastatur, ohne zu schreiben. Gedankenverloren.
Jette lebte ihr eigenes Leben, gut, aber musste sie das so voll und ganz und kompromisslos tun? Gab es in ihrem Kopf nur Schwarz und Weiß und nichts dazwischen?
»Ich habe doch auch eine Mutter«, murmelte Imke und stellte schuldbewusst fest, dass sie schon über eine Woche nicht mehr mit ihr telefoniert hatte.
Sofort griff sie zum Hörer.
»Entschuldige«, sprudelte es aus ihr heraus, nachdem ihre Mutter sich gemeldet hatte. »Ich hatte so viel um die Ohren, ich habe es einfach nicht geschafft, dich anzurufen.«
»Ja. Und?«
»Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leidtut.«
Imke hörte sich diesen Satz sagen und stellte fest, dass sie es gar nicht so meinte. Mir fehlt nicht nur das Talent für die Mutterrolle, dachte sie beschämt, ich tauge auch nicht zur Tochter.
»Wann gewöhnst du dir endlich diesen anstrengenden Hang zum Perfektionismus ab?«, fragte ihre Mutter. »Ständig schleppst du dein schlechtes Gewissen mit dir herum. Das macht es verdammt schwer, mit dir auszukommen.«
Imke schluckte. Was redete ihre Mutter denn da?
»Noch bin ich kein Pflegefall, mein Kind. Sollte sich das ändern, wirst du die Erste sein, die es erfährt. Dann kannst du mich betüddeln, so viel du willst.«
Betüddeln, dachte Imke, was für ein schönes Wort.
Sie hatte sich das Gespräch anders vorgestellt, liebevoller vielleicht, ein bisschen wie dieses altmodische, freundliche Wort, das ihre Mutter da eben verwendet hatte. An die direkte,
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