Der Sommermörder
verzog keine Miene.
Stattdessen starrte sie mich mit zusammengekniffenen Augen an. Ich hatte das Gefühl, von ihrem Blick durchbohrt und wie ein Schmetterling auf ein Stück Pappe gespießt zu werden.
»Mrs. Hintlesham«, sagte sie, »können wir irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind?«
Ich blickte mich um.
»Ich bin nicht sicher, ob es in diesem Haus einen solchen Ort gibt«, antwortete ich mit einem gezwungenen Lächeln.
3. KAPITEL
ie müssen das Chaos entschuldigen«, sagte ich, während wir uns zwischen den Um
S
zugskisten
hindurchschlängelten und bis zu einem Sofa vorkämpften.
»In ungefähr zwanzig Jahren wird das hier mal das Wohnzimmer sein.«
Sie zog ihre verknitterte Leinenjacke aus und ließ sich auf dem unbequemen alten Korbsessel nieder. Sie war groß und schlank, hatte dunkelblondes Haar und lange, dünne Finger, an denen sie keine Ringe trug.
»Danke, dass Sie sich für mich Zeit nehmen, Mrs. Hintlesham.« Sie setzte eine randlose Brille auf, holte einen Notizblock und einen Stift aus ihrer Tasche und notierte sich etwas, das sie anschließend unterstrich.
»Ich habe wirklich nicht viel Zeit. Wie Sie sehen, bin ich sehr beschäftigt. Bis die Jungs nach Hause kommen, muss ich noch eine Menge erledigen.« Mit diesen Worten nahm ich ebenfalls Platz und strich meinen Rock über den Knien glatt. »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee oder Tee anbieten? Oder lieber etwas anderes?«
»Nein, danke. Ich werde versuchen, es kurz zu machen.
Ich wollte bloß, dass wir uns schon mal ein wenig kennen lernen.«
Allmählich regte mich das alles ziemlich auf. Ich begriff einfach nicht, was da ablief und wieso diese Frau so ernst wirkte.
»Ehrlich gesagt finde ich, dass die Polizei ein bisschen viel Theater um die ganze Sache macht. Ich meine, es ist doch nur ein blöder Brief. Erst wollte ich gar nicht anrufen, und nun geht es hier plötzlich zu wie am Piccadilly Circus.«
Sie wirkte nachdenklich – so nachdenklich, dass sie gar nicht richtig mitzubekommen schien, was ich sagte.
»Nein«, antwortete sie. »Sie haben schon richtig gehandelt.«
»Es tut mir schrecklich Leid, aber ich habe Ihren Namen vergessen, mein Gehirn ist zurzeit wie ein Sieb. Vorzeitige Senilität, nehme ich an.«
»Grace. Grace Schilling. Das muss Ihnen alles ziemlich seltsam vorkommen.«
»Nein, eigentlich nicht. Ich habe der Polizei schon gesagt, dass ich es bloß für einen Scherz halte.«
Dr. Schilling war diejenige mit dem Kostüm und dem Notizbuch. Sie war die Ärztin. Trotzdem rutschte sie unbehaglich auf ihrem Sessel hin und her, als wüsste sie nicht so recht, was sie sagen sollte. Zugegeben, dieser unglückselige Sessel ist so unbequem, dass sich kein Mensch darauf wohl fühlt, aber mir war trotzdem nicht ganz klar, worauf sie eigentlich hinauswollte.
»Ich möchte Ihnen keinen psychologischen Vortrag halten. Es geht mir nur darum, Ihnen zu helfen.« Sie hielt einen Moment inne, als würde sie nach den richtigen Worten suchen. »Wie Sie wissen, gibt es Männer, die sich wahllos irgendwelche Frauen aussuchen und sie belästigen oder angreifen. Mit dem Brief, den Sie bekommen haben, verhält es sich offensichtlich anders.«
»Ja, das sehe ich auch so«, antwortete ich.
»Der Kerl hat Sie gesehen. Sie bewusst ausgewählt. Ich frage mich, wie nahe er Ihnen dabei gekommen ist. Er schreibt, dass Sie gut riechen. Dass Sie eine schöne Haut haben. Was für ein Gefühl gibt Ihnen das?«
Ich lachte verlegen. Sie verzog keine Miene. Stattdessen beugte sie sich zu mir herüber und musterte mich. »Sie haben tatsächlich eine schöne Haut.«
Aus ihrem Mund klang das nicht wie ein Kompliment, sondern wie eine interessante wissenschaftliche Feststellung.
»Na ja, ich tue auch einiges dafür. Ich habe da so eine besondere Creme.«
»Passiert es Ihnen oft, dass Leute Sie attraktiv finden?«
»Was für eine Frage! Ich kann mir nicht vorstellen, wie Ihnen das weiterhelfen soll. Aber wenn Sie meinen …
Lassen Sie mich nachdenken. Ein paar von Clives Freunden sind schreckliche Frauenhelden. Und auch sonst gibt es bestimmt ein paar Männer, die mich genauer ansehen, Sie wissen schon … wie Männer Frauen eben ansehen.« Grace Schilling sagte nichts, sondern starrte mich nur erwartungsvoll an. »Meine Güte, ich bin fast vierzig!«, stieß ich hervor, um das Schweigen zu brechen.
Meine Stimme klang lauter als beabsichtigt.
»Arbeiten Sie, Jenny?«
»Ja, aber anders, als Sie sich das vorstellen«, antwortete ich fast
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