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Der Sommernachtsball

Der Sommernachtsball

Titel: Der Sommernachtsball Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stella Gibbons
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sie sich auf den Heimweg. Liebe alte Catty, die liebe Catty, sie kannte sie, seit sie ein Baby gewesen war. Catty hatte noch ihre Mutter gekannt. Viola glaubte kaum, dass sie auch nur einen Penny gespart hatte, von ihren drei Pfund pro Woche.
    Ein paar Tage später konnte es Viola einfach nicht mehr in dem kalten, düsteren Haus mit seinen depressiven Bewohnern aushalten und verkündete, sie wolle ein paar Sandwiches einpacken und in die Marschen hinausfahren, um sich die Vögel anzusehen. Sie wolle den Frühbus nehmen, und da niemand versuchte, sie davon abzuhalten (außer trübe zu sagen: Was willst du denn bei dem Wetter da draußen?), tat sie es.
    Die Vögel waren das einzig Interessante, was es im Winter in und um Sible Pelden zu sehen gab. Sie kamen aus allen möglichen Ländern, sobald es kälter wurde. Keiner außer Giles Bellamy kannte all ihre Namen. Die Sible Peldener sagten zwar oft im Winter: »Wir müssen unbedingt mal wieder rausfahren und uns die Vögel anschauen, weißt du noch, wie interessant das war, vor fünf Jahren, als wir das letzte Mal da waren?«, aber keiner tat es, denn es war kalt und öde auf den weiten Marschflächen; klar, dass die Leute lieber ins Kino gingen.
    Aber Viola fuhr hin. Sie nahm den Bus, in dem außer ihr nur noch eine beleibte Dame saß, und fuhr über schmale, gewundene Landstraßen, vorbei an abgeernteten Feldern, auf denen eine dünne eisige Schneeschicht lag. In Dovewood Abbey, dem letzten Halt, stieg sie aus. Hier begann das Marschland.
    Sie ging eine gute halbe Stunde lang die einsame Marschstraße entlang, vorbei an der Ruine der alten Abtei, die auf einem Hügel thronte, vorbei an steif gefrorenem Schilfgras, durchbrochen von stillen, dunklen Wasserflächen, auf denen eine dünne graue Eisschicht lag. Vögel waren nicht viele zu sehen, aber die meisten hielten sich auch nicht in der Nähe der Straße auf, sondern weiter draußen, auf den Salzgraswiesen, hinten denen das Meer lag und wohin sich sonst nur Fischer verirrten oder Vogelfreunde oder Schilfschneider und (so wurde gewispert) Schmuggler in tiefliegenden Booten, schwer beladen mit Seidenstrümpfen oder Fotoapparaten.
    Aber die Geräusche und Spuren der Vögel waren überall um sie herum, ihre wilden Schreie drangen von nah und fern an ihr Ohr, aus Schilfbüscheln, deren purpurne Gräser im Wind zitterten, und aus flaumigen Rohrkolbendickichten; einmal sah sie einen dicken großen Vogel, graubraun, im Schilf verschwinden, und einmal flog eine Schar kleinerer, herrlich grün und kastanienbrauner Vögel über eine Wasserfläche, in der sich der graue Himmel spiegelte.
    Der Wind blies ihr stetig ins Gesicht, rötete ihre Wangen und ihre Nase. Es roch nach Schilf, Marschwasser und nach Schnee. Alles war still, bis auf das Rauschen des Winds über die endlose Weite, über Schilfwiesen und dickblättrige Wasserpflanzen, ingwergelb und vertrocknet. In der Ferne stieg ein dichter Schwarm Vögel am grauen Himmel auf.
    Als die Marschstraße sich in viele kleine Pfade teilte, die im Schilf verschwanden, hielt sie an, breitete ihren Regenmantel aus und setzte sich hin, um ihre Brote zu essen. Ihr war kalt, und sie war traurig, dennoch genoss sie diesen Ausflug mehr, als sie gedacht hätte. Komisch, dass niemand hierherkommt, dachte sie. Es ist doch so schön hier, trotz der Kälte und Einsamkeit. Sie schaute in die Ferne, zu den Salzmarschen und dem dahinterliegenden Meer, und sie hob ihr vom Wind gerötetes Gesicht, und plötzlich kam die tief stehende Sonne unter den Wolken hervor, und ein Strahl bohrte sich wie ein Pfeil in die weiten Marschen.
    Hingerissen verfolgte sie dieses Schauspiel, da ertönte plötzlich ein Geräusch wie das Klappern zahlreicher Hufe, wie galoppierende Pferde, aber nicht so donnernd, sondern tiefer, melodiöser, ein erregendes Geräusch. Und es kam näher. Viola schaute sich suchend um. Ihr Herz klopfte schneller; es war ein Geräusch, wie sie es noch nie gehört hatte.
    Näher und näher kam es, bis plötzlich ein großer Schwarm wilder Schwäne über sie hinwegflog. Ihre weißen Schwingen glänzten golden in der Abendsonne. Lachend vor Erregung sprang sie auf und rannte ihnen ein Stück weit nach, aber die untergehende Sonne und die Tränen in ihren Augen blendeten, und sie sah nichts mehr.
    Eine ganze Weile blieb sie dort stehen und starrte sehnsüchtig in die Richtung, in die sie verschwunden waren. Wie wunderschön sie waren! So etwas Schönes hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen.

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