Der Sommernachtsball
Versteh nicht viel von Musik, Miss Hetty.«
»Na, kennen Sie ein Lied, das IN SUMMERTIME ON BREDON heißt?«
»Geht das so?« Und er pfiff es, als ob er eine Amsel wäre.
»Ja, genau! Das ist es! Woher kennen Sie’s denn?«
»Hab’s gestern Abend im Radio gehört, Miss Hetty. Tolles Lied.«
»Und können Sie sich an den Text erinnern?«
»Nee, den hab ich nich so mitgekriegt.« Er grinste.
»Na, egal, aber er ist wunderschön, und der Mann, der ihn geschrieben hat, ist gerade erst gestorben. Deshalb will ich diesen Kirschbaum pflanzen. Ihm zu Ehren, sozusagen.«
Heyrick nickte, amüsierter denn je.
»Er war ein Dichter, wissen Sie«, erklärte sie, umschlang ihre Knie und starrte zu den weißen Sternblüten hinauf. ( »Der Birnbaum schneite auf das Land«. ) »Ein wahrer Dichter.«
»So wie Kipling? In der Schule haben wir mal ein Gedicht von Kipling gelernt. Es hieß WENN . Aber ich kann’s nicht mehr.«
»Nein, überhaupt nicht wie Kipling«, korrigierte Hetty, »obwohl Kipling auch toll ist. Leider aus der Mode, heißt es (aber was wissen die schon). Ach, na ja«, sie rappelte sich ungeschickt auf und klopfte ihren Rock ab, »trotzdem danke, Heyrick. Ist ja egal. Wenn’s zu viel Umstände macht … Ich dachte einfach nur, ein kleiner Kirschbaum, der kostet nur sieben Shilling und sechs Pence, den hätte ich mir kaufen und irgendwo einpflanzen können. Hätte ich mir gleich denken können, dass das nicht geht … auch wenn hier reichlich Platz ist.«
»Platz iss’ allerdings, Miss Hetty«, bestätigte Heyrick, der ein wenig faul war.
Hetty zog grimmig ihren Hut über ihre grimmigen Augen und wollte gerade ihre teure Handtasche vom Boden aufheben, als die kleine Waliserin atemlos um die Ecke gelaufen kam.
»Ach, Miss Hetty! Madam sagt, Sie möchten bitte sofort reinkommen.«
»Hat sie Sie hierhergeschickt?«, fragte Hetty erschrocken. Der Wassertank in diesem verschlampten Teil des Gartens war ihre einzige Zuflucht auf Grassmere, hier konnte sie ungestört Gedichte lesen.
»Nee, nee, Miss Hetty, sie hat mich rauf auf Ihr Zimmer geschickt. Aber ich wusste, dass Sie wahrscheinlich hier draußen sind, wo’s heute doch so schön ist und der Heyrick sagt …«
»Ach so, danke«, unterbrach Hetty den melodiösen Redefluss der kleinen Waliserin. »Sagen Sie bitte keinem, dass ich hier rauskomme, ja, Davies? Ich hab hier immer meine Ruhe.«
»Klar sag ich’s keinem, Miss Hetty«, versprach die Zofe, die aus einem Ort namens Merionethshire stammte, bereitwillig, aber auch ein wenig verächtlich. Und es war ihr ernst damit. Ein Geheimnis ist ein Geheimnis, auch wenn’s dabei nicht um Burschen geht. Jedes Geheimnis ist besser als keins.
»Arme Miss Hetty«, sagte die Waliserin, als Hetty verschwunden war, und wandte Heyrick ihr blumiges Antlitz zu (nelkenrote Lippen, pfingstrosige Wangen und dunkellila Augen wie Stiefmütterchen). »Sie sollte heiraten.«
»Da ist sie nicht die Einzige«, sagte Heyrick und beugte sich über die kleine Waliserin, die quietschend in einem Wirbel aus Stricken und Bast verschwand.
»Wo warst du denn, Hetty?«, erkundigte sich Mrs Spring nervös und schlüpfte in ihre Handschuhe. »Ich wünschte, du würdest dich nicht immer so davonschleichen, wenn ich mal mit dir reden will.«
»Entschuldige, Tante Edna.«
Sie setzten sich ins Auto, und der Chauffeur fuhr los. Mrs Spring begann sogleich die Aktivitäten des heutigen Tages zu erörtern.
Hetty saß stumm daneben, in dem Kostüm, das ihre Tante für sie ausgesucht hatte. Es stand ihr nicht sonderlich. Sie war ein pummeliges Mädchen Anfang zwanzig mit dunklem Haar, das sie gewöhnlich zu einem unordentlichen Knoten aufsteckte. Sie hatte schlechte Haut und kleine, ebenmäßige Gesichtszüge, die überraschend attraktiv wirkten.
Hetty war die einzige Tochter von Mrs Springs einziger Schwester; ihre Eltern waren tot, und sie lebte seit ihrem fünften Lebensjahr bei ihrer Tante und ihrem Cousin Victor. Sie verfügte über gut hundert Pfund pro Jahr, die ihr von der Mutter hinterlassen worden waren. Viel zu wenig für ein Mädchen, um anständig davon leben zu können, hatte Mrs Spring gefunden und sie prompt zu sich genommen.
Mrs Spring hatte ihre Schwester sehr geliebt; die Zuneigung zu ihr war die prägendste Erfahrung in ihrem geistlosen Leben. Sie hatte gehofft, dass Hetty, die Tochter ihrer geliebten Schwester, so etwas wie eine Wiedergeburt von Winnie sein würde.
Aber Hetty schlug mehr der Seite ihres Vaters
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