Der Sonntagsmann
Blutgruppe des Kindes unbekannt gewesen war.
Bislang waren Elina keine Versäumnisse der Ermittler aufgefallen, aber sie hatte ja auch nur ein wenig in den Vernehmungsprotokollen gelesen. Ylva Marieanne Malmbergs Tagebücher sowie ihren Taschenkalender hatte sie noch nicht angesehen. Sie musste sich eingestehen, dass es ein unrealistisches Unterfangen war, einen Zusammenhang entdecken zu wollen, der bisher übersehen worden war. Aber sie konnte sich des Gefühles nicht erwehren, dass sie, gerade sie, die Gabe habe, unsichtbare Zeichen zu deuten und zwischen den Zeilen zu lesen, das Unbegreifliche zu verstehen und zu erkennen, was allen anderen entgangen war.
Sie stand auf, zog ihre Schuhe und ihre Jacke an und löschte das Licht in der Diele. Es war Viertel vor sieben und Zeit, Kärnlund zu besuchen. Sie ging die Treppe hinunter und ließ ihre Gedanken schweifen: Finde den Vater, dann hast du den Mörder.
9. KAPITEL
Die Klappe am Briefkasten schepperte, und Kari Solbakken erhob sich vom Bett. Auf dem Dielenfußboden lag ein Fensterumschlag. Sie drehte ihn um und las sie den Absender: Kriminalpolizei Stockholm.
Ihr wurde kalt. Mit zitterndem Zeigefinger riss sie den Umschlag auf und klaubte den Brief heraus. Er war in der Mitte geknickt. Sie zwang sich, ihn aufzufalten: »Hiermit werden Sie dazu aufgefordert, sich am Dienstag, den 7. September, um 9.30 Uhr zum Verhör beim Drogendezernat der Kriminalpolizei einzufinden.«
Sie setzte sich aufs Bett und ließ den Kopf hängen. In dieser Haltung blieb sie mehrere Minuten lang sitzen. Dann glitt ihr der Brief aus der Hand und fiel zu Boden. Sie stand auf, ging in die Diele und zog eine Jacke über.
Es regnete. Ziellos lief sie zwei Stunden lang draußen herum. Als sie in ihre Wohnung zurückkam, ging sie wieder zum Bett und hob den Brief auf. Sie fand einen Stift in der Küche und schrieb mit großen Buchstaben quer über die Mitteilung der Polizei: »ICH MUSS MEIN LEBEN IN DEN GRIFF KRIEGEN.«
Es klingelte. Sie zuckte zusammen. Als sie die Tür öffnete, hielt Robert ihr ein Blatt Papier vor die Nase.
»Die habe ich heute Morgen bekommen«, sagte er.
Kari beugte sich vor und las.
»Vorladung zur Gerichtsverhandlung. Was hast du angestellt? Einmal zu oft Grafitti gesprayt?«
Er öffnete den Mund, um zu antworten, aber Kari fiel ihm ins Wort.
»Steh nicht so rum. Komm rein.«
Er zog die Schuhe aus und ging in die Küche. Sie setzte einen Topf Wasser auf.
»Sie haben mich in der U-Bahn erwischt«, sagte er. »Ein Freund und ich haben einen Wagen ausgestaltet. Und dann habe ich Sachen geklaut. Eine Jacke und Esswaren bei Åhléns. Dann bin ich auch noch ohne Führerschein Auto gefahren. Den Lappen bin ich seit ein paar Monaten los. Aber wie haben die sich das eigentlich vorgestellt? Ich muss manchmal einfach fahren. Ohne fahre ich auch nicht schlechter.«
»Hast du ein Auto?«
»So ’ne alte Karre. Läuft aber gut.«
»Was brummen sie dir dafür auf?«
»Dieser Anwaltstyp, den sie mir gegeben haben, sagt, dass ich zwei Monate Gefängnis kriege, weil ich nicht zum ersten Mal straffällig geworden bin. Und dann muss ich Schadenersatz zahlen für diesen U-Bahnwagen. Das ist real scary.«
Sie nahm zwei Tassen aus dem Schrank. Er setzte sich an den Küchentisch.
»Was ist das?« Er las den Brief auf dem Tisch, ehe sie ihn daran hindern konnte. »Drogen? Hast du gedealt oder was?«
Sie riss den Brief an sich. »Kannst du nicht lesen? Da steht Vernehmung. Undenkbar, dass ich mir etwas hätte zu Schulden kommen lassen.«
»Es war also jemand anders? Erzähl! Scheint ja wirklich heavy zu sein.«
Er wartete. Sie schwieg. »Ich habe schließlich auch erzählt«, sagte er. Als sie weiterhin schwieg, versuchte er es anders: »Du rauchst doch ziemlich viel, nicht wahr? Deswegen hast du ja wohl auch geschrieben, dass du dein Leben in den Griff kriegen willst.«
»Willst du jetzt einen Tee oder nicht?«
Sie schenkte ein, ohne seine Antwort abzuwarten.
»Hast du je daran gedacht, deinen Vater und deine Mutter zu suchen?«, fragte er plötzlich. »Ich meine, die richtigen.«
Kari sah ihn erstaunt an.
»Nein … wieso?«
»Ich habe darüber nachgedacht, unlängst abends, nachdem du gegangen warst. Die Art, wie du davon erzählt hast. Dass du mit deiner Mutter jeden Tag redest. Und irgendwo müssen sie schließlich sein.«
Er beugte sich zu ihr vor. Er klang eifrig.
»Du brauchst eine Pause. Ich auch. No way, dass ich dieser Vorladung Folge leiste! Ich
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