Der Sonntagsmann
Ärztliches Gutachten, Protokoll der Spurensicherung und Vernehmungsprotokolle. Kari begann mit dem ärztlichen Gutachten. Das Findelkind, von dem nur als »das Mädchen« die Rede war, war zwar gesund, aber aufgrund von Flüssigkeitsmangel etwas dehydriert gewesen. Das hatte sich jedoch innerhalb von vierundzwanzig Stunden ausgleichen lassen. Das Mädchen hatte, als es aufgefunden worden war, 6030 Gramm gewogen, und man schätzte das Alter auf fünf oder sechs Monate. Der Körper hatte keine besonderen Merkmale aufgewiesen. Das Mädchen war blond und blauäugig gewesen. Alle physischen Reaktionen und Verhaltensweisen hatten dem Alter entsprochen.
Der Korb, in dem das Mädchen gelegen hatte, war wahrscheinlich mehrere Jahre alt gewesen. Wo er gekauft worden war, hatte sich nicht mehr nachvollziehen lassen. Kriminaltechnisch verwertbare Spuren hatten an dem Korb oder den Kleidern des Mädchens nicht gesichert werden können, abgesehen von einigen Haaren, die nicht von dem Mädchen stammten, einem Schnuller und einer Babyflasche.
Die Zusammenfassung beschrieb den momentanen Stand der Ermittlung und alles, was bis dahin unternommen worden war. Das Kind war nachts bei einer Temperatur von drei Grad aufgefunden worden. Reidar Solbakken hatte die Polizei in Ramberg alarmiert. Keine Spuren der biologischen Eltern oder der Person, die das Kind dort zurückgelassen hatte, waren gefunden worden. Vernehmungen der Nachbarn von Herrn und Frau Solbakken hatten keine verwertbaren Informationen ergeben. Niemand hatte etwas gesehen, was sich mit dem Vorfall in Zusammenhang hätte bringen lassen. Ein deutscher Tourist, der in seinem Wohnwagen an der Straße nach Ramberg übernachtet hatte, gab an, dass gegen Mitternacht ein paar Autos vorbeigefahren seien. Der Mann war der Meinung, dass sie entweder norwegische oder schwedische Nummernschilder gehabt hatten. Er hatte nicht den Eindruck gehabt, dass eines dieser Autos nach Flakstad abgebogen war. Weitere Ermittlungen waren ergebnislos verlaufen. Im Dezember 1979 war das Mädchen schließlich in Erwartung eines Adoptionsentscheides dem Ehepaar Solbakken in Pflege gegeben worden.
Reidar und Berit. Man hatte sie einzeln verhört. Kari begann zu lesen, was Reidar gesagt hatte, und reichte Robert das Verhör mit Berit.
Reidar und seine Ehefrau hatten im Bett gelegen und geschlafen. Kurz nach Mitternacht war Reidar von einem Geräusch »wie dem eines verletzten Tieres« geweckt worden. Bei genauerem Hinhören hatte er den Eindruck gehabt, dass es eher wie ein schreiendes Kind klang. Er war aufgestanden und hatte aus dem Schlafzimmerfenster im Obergeschoss geschaut. Auf der Treppe hatte er einen Gegenstand ausgemacht. Er war ins Erdgeschoss hinuntergegangen und hatte die Haustür geöffnet. Vor ihm hatte der Korb mit dem schreienden Kind gestanden, das er sofort mit ins Haus genommen hatte. Anschließend war er zu seiner Frau ins Schlafzimmer zurückgegangen, hatte ihr von dem merkwürdigen Fund erzählt und dann die Polizei angerufen.
Berit war erwacht, als ihr Mann aufgestanden war. Sie war liegengeblieben, während sich ihr Mann ins Erdgeschoss begeben hatte. Dann war er wieder nach oben gekommen und hatte erzählt, auf der Außentreppe habe ein kleines Kind gelegen, das er ins Wohnzimmer gebracht habe. Das Kind hatte hungrig gewirkt. Er hatte sie gebeten, sich darum zu kümmern, während er bei der Polizei anrief. Beide waren sie natürlich vollkommen aus dem Häuschen gewesen. Zusammen mit ihrem Mann und dem Kind war sie dann mit dem Polizeiwagen zum Arzt nach Ramberg gefahren, der sie bereits erwartete. Beide hatten keinerlei Beobachtungen gemacht, die sich mit der Person oder den Personen, die das Kind auf ihrer Treppe abgelegt hatten, in Zusammenhang hätten bringen lassen. Sie hatten auch zum fraglichen Zeitpunkt keine Motorengeräusche gehört.
»Glaubst du das?«, fragte Robert, nachdem er die letzte Seite der Akte gelesen hatte.
»Ich weiß nicht«, meinte Kari. »Und du?«
»Du musst wirklich gut bei Stimme gewesen sein, um einen alten Mann mitten in der Nacht in seinem Haus aufzuwecken.«
»Sie scheint überhaupt nichts gehört zu haben, nicht einmal als sie aufgewacht ist, weil er aufgestanden ist. Und habe ich aufgehört zu schreien, als er mich ins Wohnzimmer getragen hat?« Kari schüttelte den Kopf. »Hätte nicht die Polizei diese Fragen stellen müssen?«
»Was ist deiner Ansicht nach eigentlich passiert?«
»Stell dir vor, sie wären nicht aufgewacht? Dann
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