Der Sonntagsmann
wäre ich erfroren«, sagte Kari aufgebracht.
»Nimm mal an, du hättest dir die Mühe gemacht, mit mir zu Reidars und Mamas Haus zu fahren, hättest du dann nicht auch dafür gesorgt, dass sie mich ins Warme tragen?«
»Doch, dass hätte ich vermutlich«, meinte Robert.
»Ich glaube, sie haben gelogen. Sie wussten, wer mich auf die Treppe gelegt hatte, taten aber so, als hätten sie keine Ahnung, und haben es der Polizei erschwert, meine Eltern zu finden.«
Am Samstag beschlossen Kari und Robert, nach Svolvsær reinzufahren. Sie wollten sich waschen und wieder einmal in einem richtigen Bett schlafen. Also gingen sie in die Jugendherberge. Abends waren sie im Kino. Kari war es egal, dass die Karten teuer waren.
Morgens standen sie erst spät auf und frühstückten ausgiebig. Anschließend unternahmen sie einen Spaziergang durch die Stadt. Svolvsær war ein merkwürdiger Ort, die Häuser wirkten wie willkürlich hingeworfen und erweckten den Eindruck eines Siedlerdorfes, in dem sich die Zuzügler einfach dort niedergelassen hatten, wo es ihnen gerade gefallen hatte. An diesem grauen Sonntagvormittag, dem 19. September, herrschte wirklich kein großes Gedränge in Svolvsær. Es dauerte zehn Minuten, bis sie, abgesehen von allen kreischenden Fischmöwen, den ersten lebenden Wesen, einem Mann mit seinem Hund, begegneten.
»Mir ist noch etwas eingefallen«, meinte Kari. »Im Café, in dem wir gefrühstückt haben, lag eine Zeitung, die Lofotposten. Vielleicht haben die noch alte Artikel, in denen etwas über mich drinsteht.«
»Glaubst du wirklich?«, zweifelte Robert.
»Oder über Reidar. Wenn er denn so wichtig war, wie alle behaupten.«
Robert zuckte mit den Achseln. »Wir können ja fragen. Aber ist da nicht sonntags zu?«
»Mal sehen.«
Kari ging zu einem Kiosk. Eine Minuten später war sie wieder zurück. »Die Redaktion liegt hier gleich um die Ecke.«
Kari ging voraus und fand das Haus sofort. Sie klingelte. Eine Frau um die dreißig öffnete.
»Gibt es hier alte Zeitungen, die man lesen kann?«, fragte Kari.
»Wie alt denn?«, wollte die Frau wissen.
»So fünfundzwanzig, dreißig Jahre.«
»Zeitungen nicht. Aber wir haben alte Zeitungsausschnitte. Sucht ihr etwas besonderes?«
Kari versuchte, es ihr so gut wie möglich zu erklären.
»Dann müssen wir wahrscheinlich unter dem Namen deines Adoptivvaters suchen«, meinte die Frau. »Vielleicht gibt es einen Umschlag mit alten Artikeln über ihn.«
Die Frau führte sie in ein Zimmer und bat sie, an einem Schreibtisch Platz zu nehmen. Einen Augenblick später kam sie mit einem braunen Umschlag zurück. Das Papier war brüchig und zerknittert.
»Reidar Solbakken. Er hat einen eigenen Umschlag. Offenbar wurde einiges über ihn geschrieben. Ihr könnt hier sitzen und euch die Artikel anschauen.«
Kari zog die vergilbten Artikel aus dem Umschlag und legte sie auf den Schreibtisch. Sie waren chronologisch geordnet. Der erste stammte von 1945. Der norwegische König hatte den Kriegshelden auf den Lofoten Orden verliehen. Einer von ihnen war Reidar Solbakken gewesen. »20 Jahre«, stand hinter seinem Namen. Er wirkte jung und ernst.
Kari las alle Artikel durch und gab sie an Robert weiter, der gelegentlich nach Wörtern fragte, die er nicht verstand. Die Artikel beschrieben Reidar Solbakkens Erfolge. Reidar mit seinem ersten Fischerboot. Reidar wird für die Arbeiterpartei in die Gemeindeverwaltung gewählt, Reidar leitet eine Delegation, die in Oslo bei der Regierung vorstellig wird, um Geld für eine Fischfiletfabrik zu erbitten. Reidar weiht eine neue Brücke in der Gemeinde ein.
»Hast du das hier gesehen?«, fragte Robert und hielt einen Artikel über Rekordfänge der Lofotenfischer hoch.
Kari lehnte sich vor. »Ja«, erwiderte sie. »Und?«
»Lies mal die Bildunterschrift.«
Sie nahm den Ausschnitt. Er war von 1971. Das Bild zeigte die Besatzung vor einem Fischerboot. Vor der Besatzung stand Reidar Solbakken. Sie las leise. Dann sah sie zu Robert hoch. »Das ist Reidar«, sagte sie und las dann laut: »Hinter dem Eigner des Bootes steht die erfolgreiche Besatzung. Links: Pflegesohn Leif Oskar.«
»Wer ist Leif Oskar?«
Kari betrachtete das Foto. »Keine Ahnung. Ich habe noch nie von irgendeinem Leif Oskar gehört. Oder davon, dass Mama und Reidar einen Pflegesohn gehabt haben sollen.«
»1971. Das ist lange her. Aber vielleicht hatten sie auch später noch Kontakt zu ihm. Vielleicht weiß dieser Leif Oskar ja etwas über
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