Der Spezialist: Thriller
»Melon« ergaben, Harrys Lieblingsobst. Wenn das Passwort stimmte, bedeutete es, dass die Besucher der Site eine einwandfreie Empfehlung besaßen.
Harry trank einen Schluck Kaffee und grinste, als der jetzige Besucher eingab:
Möchte Erfülltes Leben Ohne Not.
Na ja, dachte er, wer möchte das nicht?
Allerdings kam niemand an Carmines ersten Login im Jahre 1999 heran: Minestrone, Entenbrust, Linguine, Ossibuchi, Nougat. Ein fünfgängiges italienisches Menü von einem Mann, dessen Appetit und Sinn für Humor genauso groß waren wie seine Lust auf Vergeltung und der das Leben auskostete, wie er Macht anwendete: in vollen Zügen.
Die Site akzeptierte die Phrase und fragte nach einer »Referenz«. Harry erkannte den Namen, der eingetippt wurde – Colicos war ein New Yorker Schrottbaron, der Geiger schonzweimal beauftragt hatte. Harry wartete, bis der Klient die Anweisungen befolgt und seinen Namen, seine Handynummer, die Identität des Jones und den Grund eingegeben hatte, weshalb er Geigers Dienste in Anspruch zu nehmen wünschte.
Wieder drückte Harry sanft auf die Geschwulst in seinem Schritt und überlegte, ob er sie untersuchen lassen sollte. Doch er hasste Arztbesuche fast genauso sehr wie das Wissen, einen Grund zu haben, zum Arzt zu gehen. Geiger hatte ihm gezeigt, wie man falsche Identitäten anlegte, aber Krankenversicherungen waren für jemanden, der untertauchen wollte, zu heikel; deshalb zahlte Harry alle Arztrechnungen in bar. Der Gedanke, große Summen auszugeben für Untersuchungen, Biopsien und was es sonst noch gab, schmeckte ihm gar nicht.
Die Website füllte sich mit Informationen; dann zeigte ein neuerliches Klingeln an, dass der Besucher die Seite verlassen hatte. Harry machte einen Ausdruck und schaute auf die Armbanduhr. Lily würde bald kommen.
Sein Blick fiel auf ihr Foto auf dem Ecktisch: Lässig lag sie auf der Couch und schaute ihn mit ihrem verschmitzten Ich-weiß-etwas-was-du-nicht-weißt-Lächeln an. Doch so attraktiv und intelligent sah seine Schwester schon lange nicht mehr aus. Vor fünfzehn Jahren hatte er sie in ein Pflegeheim gebracht; seitdem nahm er jeden Sonntag die Fahrt nach New Rochelle auf sich und besuchte sie. Er saß bei ihr, während sie ins Leere starrte und Bruchstücke alter Lieder sang, mit einer Stimme, die uralt klang, als hätte sie ein Dutzend Leben hinter sich. Sie schien zu einer Figur aus einem Science-Fiction-Film geworden zu sein, die von einem fremden Lebewesen übernommen worden war, das sich im geborgten Körper nur unbeholfen bewegen konnte und seltsame, unzusammenhängende Worte sprach, während es unbegreifliche Ziele verfolgte.
Dennoch war Harry überzeugt, dass Lily sich der Absurdität ihres Lebens sehr wohl bewusst war, und die Hartnäckigkeit, mit der sie daran festhielt, war ihm unheimlich.
Harry hatte versucht, nicht mehr so viel über Lily nachzudenken, aber sie war im fast leer stehenden Haus seines Gewissens zur Hausbesetzerin geworden und ließ sich einfach nicht auf die Straße werfen.
Harrys Schuldgefühle entsprangen keineswegs der Gleichgültigkeit – er zahlte ein Vermögen, damit Lily in dem Heim bleiben konnte. Vielmehr plagte ihn eine Wahrheit, die sich schon vor langer Zeit wie ein Pfeil mit Widerhaken in ihm verankert hatte: Er gab nicht deshalb jedes Jahr mehr als hunderttausend Dollar für Lily aus, weil sie ihm am Herzen lag, sondern weil er sich wünschte, sie wäre tot. Und eine sechsstellige Summe war heutzutage wohl der Marktpreis für die Schuldgefühle eines Boddickers.
Der Summer im Erdgeschoss war zu hören. Harry ging zur Tür und drückte den Öffnerknopf an der Wand. Vor vier Monaten hatte er in einem akuten Anfall von Reue veranlasst, dass eine der Krankenpflegerinnen an ihrem freien Tag Lily zu ihm brachte. Er hatte festgestellt, dass es seine Seelenqualen vorübergehend betäubte, wenn er Lily in seiner Wohnung gegenübersaß und nicht in der leise summenden, mit Chlorreiniger geputzten Wüste ihres Zimmers im Heim. Vor Kurzem hatte er wieder einmal veranlasst, dass Lily bei ihm übernachten sollte – und zwar heute.
Harry öffnete die Tür und trat zurück, während er auf die Schritte lauschte, die sich auf der Treppe näherten. Eine Frau Mitte zwanzig in grünem Hosenrock, High-Tops und schwarzer Vogelscheuchenfrisur erschien in der Tür. In der Hand hielt sie eine kleine Reisetasche aus Segeltuch.
»Hallo, Mr. Jones.«
»Hallo, Melissa.«
Sie drehte sich um und streckte die Hand in den
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