Der Spezialist: Thriller
Flur.
»Komm, Lily. Gehen wir.«
Eine leise, samtige Stimme antwortete: »Zeit zu gehen.«
»Ja«, sagte die Pflegerin und zog Lily in die Tür.
Der Wahnsinn und die Medikamente hatten Harrys Schwester grau und verhutzelt werden lassen. Wenn er sie heute sah, musste er sich in Erinnerung rufen, dass sie sechs Jahre jünger war als er. Sie trug die kurzärmelige himmelblaue Bluse mit den drei Knöpfen und die lilafarbene enge Hose, die er ihr vor ein paar Jahren gekauft hatte. Ihre Ellbogen, Handgelenke und Jochbeine stachen unter ihrer schimmernden Haut hervor, und als sie die tief liegenden blauen Augen auf Harrys Gesicht richtete, blickte sie ihn ohne jede Spur von Erkennen an.
»Wie geht es ihr?«, fragte Harry.
»Wie immer«, antwortete Melissa. »Gut. Stimmt’s, Lily?«
Harry trat zu seiner Schwester. Ihr Blick ruhte starr auf der kleinen Vertiefung unter seinem Adamsapfel. Harry hob die Hand und klopfte ihr behutsam mit den Fingerknöcheln auf den Kopf. »Jemand zu Hause?«
Bei seiner Berührung verzogen Lilys Lippen sich ganz leicht. Harry blickte Melissa an.
»Das haben wir als Kinder immer gemacht«, sagte er.
Lily ging zu dem breiten Panoramafenster. »Ich mag es hier«, sagte sie. »Alles bewegt sich so schnell. Ich sehe es gern, wenn sich alles so schnell bewegt.«
Auf dem East River spiegelte sich die Skyline von Manhattan nahezu perfekt, kaum etwas störte das Bild. An Sommertagen wie diesem schien es fast, als hätte die Stadt einen glänzenden Zwilling gleich unter der Wasseroberfläche.
Lily drückte die Stirn an die Scheibe und legte die Hände dagegen; dann begann sie stockend und mit leichten tanzenden Silben zu singen:
»Weit, weit unter dem Meer …«
Harry fiel ein:
»… wo ich hinwill, ist vielleicht sie.«
Lily schien ihn nicht zu hören.
»Kennen Sie das Lied, Melissa?«, fragte Harry. »Atlantis?«
»Nö«, erwiderte sie. »Gibt’s Kaffee?«
»In der Kanne. Wenn es Ihnen lieber ist, machen Sie sich ruhig frischen.«
Harry setzte sich wieder an den Schreibtisch. Seine Brust hob und senkte sich mit einem tiefen Einatmen und einem noch tieferen Seufzer. Er nahm das Blatt Papier aus dem Drucker. Während er las, nickte er. Ihm gefiel, was er sah.
»Ich muss vielleicht eine Zeit lang weg, Melissa.«
»Okay. Wir kommen schon zurecht. Lily gefällt es hier.«
Harry blickte mit einem schiefen Grinsen auf.
»Ja«, sagte er. »Lily gefällt es hier.«
6
Sie saßen an einem Tisch im Diner an der Columbus Avenue. Harry kam seit den Achtzigerjahren hierher, als er und seine Schwester in der Nähe gewohnt hatten. Heute frühstückte er hier zweimal in der Woche mit Geiger. Harry bestellte stets sein Cheddar-Omelett, Geiger immer schwarzen Kaffee. Harry sprach übers Geschäft – eine Verbesserung des E-Mail-Codecs, neue maßgefertigte Spyware, eine Datenbank, in die er sich gehackt hatte –, und Geiger hörte zu. Manchmal antwortete er mit einer Bemerkung, die jedoch nie mehr als einen Satz umfasste. Harry brachte die Times mit, und wenn sie alles beredet hatten, lasen sie. Harry niemals den Außenteil, weil Geiger sich stets nur für die Leserbriefe interessierte.
Harry goss ein Drittel eines Milchdöschens in seinen Kaffee, weil es seinem Magen besser bekam, während Geiger die Mappe öffnete und drei Blatt Papier herausnahm. Das erste enthielt den Ausdruck vom Website-Eintrag des potenziellen Klienten. Seinem Namen, Richard Hall, und einer Handynummer folgte seine Anfrage:
Ich vertrete den Eigentümer einer privaten Kunstsammlung. Vor zwei Tagen wurde ein Gemälde gestohlen, ein de Kooning. Wir glauben, dass der Dieb ein Kunsthändler ist, der als Mittelsmann bei Erwerbungen meines Klienten fungiert hat. Mein Klient ist der Auffassung, dass eine Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden nicht unbedingt zur Wiedergewinnung des Gemäldes beitragen wird, deshalb wende ich mich an Sie.
Harry beobachtete, wie Geigers graue Augen sich hin und her bewegten. Obwohl Harry nun schon mehr als ein Jahrzehnt für Geiger arbeitete, wusste er nur wenig über ihn. Er hatte aus sporadischen Bemerkungen nur ein sehr dürftiges Profil zusammenstellen können – nicht in New York geboren, Musikfreund, Vegetarier, kein Fernseher, wohnt irgendwo in der Stadt –, doch Harry hatte schon vor Ewigkeiten aufgegeben, Geiger auch nur die oberflächlichsten persönlichen Fragen zu stellen. Was Geiger von einer bestimmten Sache hielt, merkte Harry daran, wie er beim Zuhören den Kopf
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