Der Spezialist: Thriller
Hälfte um das Produkt seiner Mitteilungsfreude, zur anderen Hälfte um den Versuch handelte, sich rückzuversichern, als wäre das Halteseil, das ihn mit seiner Vergangenheit verband, gefährlich durchgescheuert und er könnte durch die Wiederbetrachtung der vergangenen Ereignisse seine Gegenwart vor dem Zusammenbruch bewahren.
Das Erzähltempo nahm zu, als er Geiger berichtete, wie er gleich nach dem College einen Job als Rechercheur bei der New York Times erhalten hatte. »Damals habe ich bemerkt, dass ich ein Talent hatte, Dinge auszugraben. Sie nannten mich dort nur ›die Schaufel‹. Komisch, wie lange es manchmal dauert, bis man herausfindet, dass man etwas wirklich gut kann.«
Er berichtete Geiger von Nächten, die er damit verbrachte, mithilfe selbst geschriebener Programme in Computernetzwerke einzudringen; er schilderte, wie er diese Fertigkeiten genutzt hatte, um Geheimnisse ans Licht zu bringen und entfernte Punkte so miteinander zu verbinden, dass sie ein Bild ergaben.
Während Harry redete, sagte Geiger nur wenig, was über ein gelegentliches Ja oder Nein hinausging. Bei Fragen nickte er nur oder schüttelte den Kopf, und obwohl seine aktive Teilnahme an dem Gespräch sich darin erschöpfte, hatte er nie den Wunsch zu gehen. Er bemerkte, wie Harry sich unter der Wirkung des Alkohols immer mehr der Melancholie ergab, wie seine Erinnerungen zunehmend an Details verloren und unzusammenhängender wurden. Geiger spürte überdies, dass Harry ein wichtiges Kapitel ausließ: Er sprach von seinem Leben, als hätte er in zwei verschiedenen Zeitaltern gelebt, aber kein einziges Mal kam er auf das Ereignis zu sprechen, das den Wendepunkt markierte. Zuerst war Harrys Geschichte erfüllt von Leidenschaft undStolz auf seine Leistungen; dann glitt sie auf dunklere Pfade ab. Seine Begeisterung für seine Arbeit schwand, die Qualität seiner Artikel nahm jäh ab. Fakten blieben im Unklaren, Abgabetermine wurden nicht eingehalten. Trinken wurde von der Ablenkung zur Gewohnheit. Nach monatelangen Verwarnungen gab die Times ihm eine letzte Chance an einem Schreibtisch in der Traueranzeigenredaktion.
»Kennen Sie das Gefühl, wenn man ganz unten ankommt und begreift, dass man genau da ist, wo man hingehört?«, fragte Harry.
Die Versetzung in die Trauerredaktion sei für ihn eine Heimkehr gewesen, fuhr Harry fort. Er lebte mit Gespenstern und ihrer Vergangenheit, vertiefte sich in ihre Großtaten und ihren Verfall. Gleichzeitig hatte es ihn angestachelt, immer raffiniertere Suchprogramme zu entwickeln, Lücken auszufüllen und dem Chaos Kontinuität zu verleihen. Es war zu einer Besessenheit geworden, zu einer merkwürdigen Wiederauferstehung.
Es war für Geiger ein außergewöhnliches Erlebnis gewesen, sich Harrys Geschichte anzuhören. In diesen drei Stunden erfuhr er mehr über diesen Mann, als er jemals über einen anderen Menschen gewusst hatte.
Als er schließlich im Licht des frühen Morgens nach Hause joggte, kam ihm ein Gedanke, wie von unsichtbarer Hand gereicht: Es war nicht das letzte Mal gewesen, dass er Harry Boddicker gesehen hatte.
***
Aus dem Mini-Lautsprecher von Harrys Computer drang ein Klingelton. Jemand hatte die Website besucht. Dieses Geräusch belebte Harry jedes Mal. Es bedeutete Arbeit, die Herausforderung, ein Puzzle zusammenzusetzen, das für das Leben eines anderen Menschen stand. Außerdem bedeutete es Geld. Harry wusste Geld erst zu schätzen, seit er mit Geiger zusammenarbeitete und viel verdiente. Geld war nützlich; zugleich linderte es Harrys Scham bei dem Gedanken daran, auf welche Weise er es verdiente.
Zwar war Harry nie bei einer von Geigers Sitzungen dabei gewesen, aber er hatte längst begriffen, dass es für Geiger bei der Arbeit nicht ums Geld ging. Worum dann? Das wusste Gott allein. Oder der Teufel. Harry jedenfalls hatte keine Ahnung, aber er fragte nie. Genauso gut hätte er van Gogh fragen können, wieso er male, oder Jack the Ripper, wieso er nachts auf Streifzug ging. Harry hatte irgendwann begriffen, dass Geiger tun musste, was er tat – und wie alles andere an diesem Mann beeindruckte es Harry.
Er rief die Website auf. Neunundneunzig Prozent aller Aufrufe von DoYouMrJones.com stammten von Dylan-Fans, die eine Homepage mit einem Bild des Sängers fanden, doch das Klingeln des PCs bedeutete, dass jemand auf »Passwort« geklickt hatte, um tiefer in die Site vorzustoßen. Das Passwort war ein Satz aus fünf Wörtern, deren Anfangsbuchstaben das Wort
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