Der Spezialist: Thriller
schloss die Autotür, dann die Tür zum Gebäude. Er ging an Harry vorbei auf die Fahrerseite, stieg ein, setzte sich aufrecht und legte die Hände vorsichtig an das Lenkrad, genau auf der Drei- und der Neunuhrposition. Für Harry hatte Geigers Haltung etwas entfernt Kindliches an sich. Diesen Eindruck erhielt er nicht zum ersten Mal, wenn er Geiger beobachtete.
»Kannst du fahren?«
Geiger musterte das Armaturenbrett und nickte. Dann drehte er sich nach hinten und schaute den Jungen an, der auf dem Rücken lag. »Wir fahren jetzt los, Ezra.«
Der Junge gab ein leises gutturales Glucksen von sich.
Geiger blickte wieder nach vorn. »Ruf mich nicht an«, sagte er zu Harry. »Ich melde mich bei dir.«
Nein, tust du nicht , dachte Harry. Dann trat er zurück und blickte dem Wagen hinterher, der langsam die Gasse entlangfuhr.
***
Geiger fuhr auf der 10th Avenue Richtung Norden. Er kam an zwei Polizeiwagen vorbei, die auf der rechten Spur langsam Streife fuhren, aber der Verkehr war nicht allzu dicht und bestand hauptsächlich aus Taxis. Er blieb unter der Höchstgeschwindigkeit von fünfunddreißig Meilen die Stunde und musste nur ungefähr alle acht Querstraßen an einer roten Ampel halten. Den Führerschein hatte er erst vor fünf Jahren gemacht und sich seitdem jeden April ein Auto gemietet, um eine Stunde lang auf dem West Side Highway zu üben. Er nahm immer die gleiche Strecke: Vom Autoverleih auf der 57th Street fuhr er zwei Blocks nach Westen zur Highway-Auffahrt, dann nach Norden zur Ausfahrt an der 96th Street, machte eine Schleife unter dem Highway hindurch und fuhr zurück Richtung Süden, Abfahrt 56th Street. Meistens drehte er insgesamt fünf Runden; dann brachte er den Wagen zurück.
In dieser Nacht fuhr er zum ersten Mal zu einem Ziel und hatte jemanden bei sich.
Seine Fernsicht war normal, aber das Sehen auf kurze Distanz wurde noch immer von gelegentlichen schwachen Blitzen behindert. Obwohl das Nieseln in Dauerregen übergegangen war, stellte er nach einem Dutzend Häuserblocks die Scheibenwischer auf Intervall ein, weil die ständige Bewegung der Wischblätter die Anomalie verstärkte. Regentropfen verbluteten auf der Windschutzscheibe, gefärbt vom Ampellicht. Geiger fuhr ganze Häuserblocks weit, ohne eine Menschenseele zu erblicken.
Als die Ampel an der 60th Street auf Gelb schaltete, hielt Geiger an und drehte sich um. Der Junge lag mit dem Gesicht zur Rückenlehne. Seine Schultern hoben und senkten sich schwach.
»Bald sind wir da«, sagte Geiger.
Der Junge bewegte leicht den Kopf auf dem Sitz. Es war ein Nicken. Geiger wandte sich wieder dem Lenkrad zu. Er spürte den Puls in seinen Adern – er ging nicht schneller, war aber als kräftiges Pochen zu spüren. Geiger wusste, er brauchte Abgeschiedenheit vom Licht, den Bewegungen und dem Lärm der Welt. Er brauchte die Dunkelheit und die Musik, damit sie ihn zurück an einen Startpunkt führten. Alles in seinem Leben drehte sich um Gleichgewicht, Kalibration und Ausgewogenheit. Er musste seine innere Waage in den Ausgangszustand zurücksetzen.
Als die Ampel auf Grün umsprang, trat er aufs Gaspedal. In diesem Moment jagte ein dunkler Schemen auf die Kreuzung – ein Radfahrer. Geiger wich nach rechts aus, hörte jedoch, wie die vordere Stoßstange gegen das Hinterrad des Fahrrads prallte, gefolgt vom Scheppern und Scharren von Metall, das über Asphalt schlittert. Geiger trat auf die Bremse. Mit einem lauten Schlag stürzte der Junge in den Fußraum vor der Rückbank.
Der Radfahrer war vor einen geparkten Wagen geprallt und lag nun unter seinem verbogenen Zehngangfahrrad. Er bewegte sich nicht. Geiger drehte sich nach hinten und schaute nach dem Jungen. Ezra war hinter den Vordersitzen seitlich eingeklemmt und gab durch das Isolierband grunzende Laute von sich.
Geiger beugte sich über den Sitz und hob ihn auf die Rückbank zurück. »Alles okay?«
Plötzlich krachte es laut. Geiger riss den Kopf zum Seitenfenster herum. Draußen stand der Radfahrer und holte ein zweites Mal mit der Luftpumpe aus. Im nebligen Licht der Straßenlaternen ließ sich unmöglich sagen, ob die dunklen Flecken in seinem Gesicht aus Blut oder Schmutz bestanden.
»Komm raus, du Scheißkerl!«, brüllte der Radfahrer durch das geschlossene Fenster.
Er war groß und hatte ein scharf geschnittenes Gesicht; unter dem T-Shirt und den Fahrradhosen aus Latex waren seine kräftigen Muskeln zu erkennen. Beide Oberarme waren mit Tattoos aus stachelbesetzten
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