Der Spezialist: Thriller
hat es funktioniert, sogar in dem elenden, endlosen Regen da drüben.« Er schnippte das Sturmfeuerzeug auf und grinste, als das unverkennbare Klacken erklang. »Hört sich super an, was?«
Mr. Memz sprach mehr als irgendjemand, dem Geiger je begegnet war, aber Geiger hörte sich seine Vorträge gern an. Er schaute auch gern zu, wie Mr. Memz sich bewegte und einer Welt gegenübertrat, die für Männer mit zwei Beinen geschaffen war. Jahrzehntelanges Whiskeytrinken und Rauchen hatten seine Stimme zu einem barschen Nebelhornton abgeschliffen. Manchmal, wenn er Bourbon im Blut hatte, zupfte Mr. Memz sich an seinem Pferdeschwanz und sprach über die Freundschaft zwischen physischem Schmerz und seinem Körper, und dann hörte Geiger besonders genau zu. Mr. Memz wusste alles über Schmerz, was es zu wissen gab.
Nun zündete er sich die Zigarette an und ließ sie zwischen seinen Lippen aufglühen. »Kann losgehen.«
Geiger blätterte das Buch durch. Ohne dass er sagen konnte, woher, wusste er, wonach er suchte, und obwohl die kleinen Buchstaben auf der Seite wie nervöse Ameisen hin und her wimmelten, fand er die Passage fast augenblicklich.
»›Mit Gebrüll sprang er auf mich los und packte meinen Arm‹«, las Geiger. Noch immer war ihm das Donnergrollen seiner eigenen Stimme fremd. Mr. Memz sah ihm in die Augen und begann zu sprechen, stieß Wörter und Rauch hervor wie eine Schusssalve.
»›Mit Gebrüll sprang er auf mich los und packte meinen Arm. Ich hatte mich ermannt und wollte standhalten, obwohl ich innerlich zitterte …‹«
***
»›… obwohl ich innerlich zitterte‹«, las der Neunjährige laut aus dem Buch vor.
Der Vater des Jungen saß vor dem gemauerten Kamin. Sein stämmiger Leib steckte in einem ausgebleichten Arbeitsanzug. Mit der rechten Hand zupfte er sich an seinem dichten, gestutzten Bart. Er zog tief an seiner Zigarette, und als er den Rauch ausblies, tauchte der Feuerschein ihn in die Farbe von blassem Bernstein.
Die Hütte war das Werk eines meisterlichen Zimmermanns. Wände und Dachgewölbe bestanden aus massiven gespaltenen Baumstämmen. Die Fenster waren so hoch eingesetzt, dass man nur grüne Baumwipfel und den endlosen Himmel sah. Der Fußboden war ein erstaunliches Kunstwerk, eine detaillierte Nachbildung von Hieronymus Boschs Der Garten der Lüste aus Tausenden von Intarsien, ein Testament der Virtuosität und Besessenheit.
»›Seine Hand hatte mich am Oberarm gefasst, und als er zupackte, sank ich zusammen und schrie laut. Ich konnte einfach nicht mehr aufrecht stehen und den Schmerz ertragen …‹«
»Ist gut, Sohn. Er ist also vom Schmerz überwältigt, aber die Frage ist: Wieso?«
»Weil er … weil er schwach ist?«
»Schwach, jawohl. Aber nicht im Körper. Wahre Stärke hat nichts mit Muskeln zu tun. Sein Geist ist schwach, weil er den Schmerz nicht kennt – und was wir nicht kennen, fürchten wir. Furcht aber macht uns schwach.« Er zog an seiner Zigarette. »Sieh mir zu.« Er blies auf das Ende der Zigarette. Die graue Asche flog davon, und die orangerote Glut wurde sichtbar. Dann setzte er die Zigarette auf seinen Handrücken und drückte sie aus, ohne mit der Wimper zu zucken oder einen Laut von sich zu geben.
»Siehst du, Sohn? Das ist keine Frage des Körpers, sondern des Geistes.«
***
Geiger wurde gewahr, dass Mr. Memz seinen Vortrag beendet hatte und sich in seinen Klappstuhl zurücklehnte. Ohne den Blick von Geiger zu nehmen, schnippte er den Zigarettenstummel weg und lächelte ihn an wie ein gut gelaunter Irrer. Geiger zog einen Fünfdollarschein aus der Tasche und hielt ihn Mr. Memz hin. Der Vietnamveteran nahm den Schein und küsste ihn.
»Eine Frage, LT.«
»Und welche?«
»Während meiner begnadeten Darbietung haben Sie nicht auf die Seite geschaut und den Text gelesen. Woher wissen Sie, dass ich es richtig gemacht habe?«
»Ich habe diesen Abschnitt schon oft gelesen. Sehr oft.«
»Warum haben Sie das denn nicht gesagt, Mann?«
»Weil ich es vergessen hatte.«
Geiger ging weiter. Der Weg führte bergab, und die wirbelnde Erde zerrte an ihm. Die Wärme, die von der Straße aufstieg, verwandelte die Umgebung in einen flirrenden Vorhang, der wie flüssige Lava wogte. Zwei Männer im Eingang der Autowerkstatt lösten an einem aufgebockten blutroten Dodge Magnum mit lärmenden Pressluftwerkzeugen die Radmuttern. Die Sonne machte aus dem Schweiß auf ihren mahagonifarbenen Rücken eine funkelnde Politur.
Ein Lichtblitz zog Geigers
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