Der Spezialist: Thriller
Sterne, die Umwandlung von Symmetrie in fließendes Chaos. Als er die Hand nach einem Regalbrett ausstreckte, begann der Anfall. In seinem Kopf, dicht unter der Schädeldecke, krepierte eine Leuchtgranate und streckte weiß glühende Tentakel nach seinen Augäpfeln aus.
Doch Ezra, den die Furcht jetzt völlig gepackt hielt, war noch nicht fertig. »Wieso haben Sie mich verschont?«, kreischte er.
»Aufhören!«, brüllte Geiger – und dann traf ihn die Migräne mit voller Wucht. Er heulte und fiel auf die Knie.
Ezra taumelte nach hinten gegen den Schreibtisch. »Was … was ist mit Ihnen?«
Schwankend presste Geiger die Fäuste gegen die Schläfen. Er gab einen Laut von sich, der vielleicht als Wort gedacht gewesen war, aber nur als dumpfes Stöhnen hervorkam.
»Bitte … es tut mir leid!«, rief der Junge. »Es tut mir leid! Bitte, rasten Sie jetzt nicht aus!«
Geiger kroch zur Zuflucht des Wandschranks. Seine Finger ertasteten die glatten Intarsien. Er hatte die Augen fest zugekniffen, um das Licht draußenzuhalten. Nun streckte er die rechte Hand vor, bis sie über die Tür strich und den Messingknauf fand. Er drehte ihn, zog sich ins Innere des Schranks, schloss die Tür hinter sich und ließ die Finsternis kommen.
Allmählich wurde ihm bewusst, dass Ezra nach ihm rief.
»Geiger! Sagen Sie doch was!«
»Musik«, krächzte Geiger. »Leg Musik auf.«
Er lag im Dunkeln, den Kopf auf dem rechten Unterarm. Mit dem linken Arm drückte er sich die Knie an die Brust. Sein Gehirn brannte. Ein Damm war gebrochen. Der Schmerz war atemberaubend, und jetzt hatte er ein Gesicht. Geiger sah es – ein Phantom, das Fleisch und Blut annahm.
Dann hörte er Musik. Nur ein einziges Streichinstrument – lieblich, melancholisch, tröstend. Er schloss die Augen. Er sah die bunten Pfützen des Schalls, schmeckte die Töne, spürte, wie sie als kalter Regen auf ihn fielen und das Feuer in seinem Kopf kühlten.
***
Als er Geigers Flehen nach Musik vernommen hatte, war Ezra zum CD-Regal geflitzt, dann aber zur Couch geschwenkt, denn sein Blick war auf seine Violine gefallen. Nun stand er vor derSchranktür und zog mit bebenden Fingern den Bogen über die Saiten des Instruments. Unter das Kinn geklemmt, war die Violine für ihn mehr als ein Trost – sie fühlte sich an wie lebenswichtiger Ballast, das Gewicht von etwas Vertrautem, etwas Gutem, das verhinderte, dass er in dem Mahlstrom mitgerissen wurde und im Nichts verschwand. Ezra schloss die Augen, und als er spielte, wurde ihm klar, dass auch er die Musik brauchte, damit sie seinen Schmerz linderte und ihn an seinen eigenen Ort des Friedens trug.
14
Internetcafés hatte Harry stets gemieden. Er wollte nicht, dass jemand neben ihm saß, der sich den Hals verrenkte und auf seinen Monitor spähte. Außerdem war er misstrauisch: Auch wenn die Rechner gesichert waren, ließ der Schutzwall sich allzu leicht überwinden. Aber in verzweifelten Zeiten sind verzweifelte Maßnahmen erforderlich; deshalb hockte er nun hier in Charlotte’s Web Café an einem von sechs Laptops. Lily saß links von ihm und pickte mit spitzen Fingern Walnussstückchen von einem Teilchen. Jedes einzelne hielt sie sich vor die Augen wie ein Goldsucher ein glänzendes, soeben gewaschenes Nugget.
Draußen stand die Sonne als weiße Glutscheibe am Himmel und verwandelte die Stadt in einen Schmortopf. Es herrschte jene Art Hitze, die aus einem Autohupen eine Beleidigung macht und aus einem finsteren Gesichtsausdruck eine Drohung. Doch das Internetcafé war wenigstens gut klimatisiert, und beinahe hätte Harry sich sogar dazu hinreißen lassen, den Schmalspurjazz zu verzeihen, der aus den Wandlautsprechern sickerte. Und der Kaffee, den er sich bei dem asiatischen Angestellten hinter der Theke gekauft hatte, schmeckte auch nicht schlecht.
Harry ließ einen Schluck im Mund kreisen und überlegte, wie er seine Bitte an Geiger am besten formulieren sollte. Er hatte sich als STICKLER im Instant Messenger eingeloggt und nach GGGG gesehen: Geiger war aktiv. Was sollte er also schreiben? Etwa: Ich bin am Durchdrehen, Mann. Ich habe überall Schmerzen und eine Geistesgestörte im Schlepptau, und diese Dreckskerle sind mir auf der Spur. Schreib mir einfach deine Adresse.
Wie hatte es nur so weit kommen können? Er wusste nicht einmal, wo der einzige Mensch, den er als Kameraden betrachtete, wohnte.
Er überlegte, Carmine Delanotte anzurufen und um Hilfe oder wenigstens einen Unterschlupf zu bitten,
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