Der Spezialist: Thriller
Freund«, sagte Carmineund schlug mit seiner gepflegten Hand auf die Zeitung. »Die Wirtschaft boomt, das Geschäft war nie besser. Letzten Monat habe ich drei Häuser auf Staten Island für ein Butterbrot gekauft. In ein paar Jahren kann ich dafür das Dreifache verlangen. Sehr merkwürdig, aber sehr profitabel.«
Wer Carmine aufsuchte, tat es aus einem von zwei Gründen: Entweder hatte man ihm etwas mitzuteilen, von dem man annahm, er hielte es für wissenswert, oder man wollte ihn um einen Gefallen bitten. In beiden Fällen ließ man Carmine das Spiel bestimmen und wartete auf den richtigen Augenblick, um sein Anliegen vorzubringen.
Es klopfte an der Tür.
»Herein«, sagte Carmine.
Der Kellner kam und stellte den doppelten Espresso und den Kaffee auf den Couchtisch zwischen den beiden Männern.
»Danke, Kenny.«
Als der Ober gegangen war, hob Carmine seine Tasse. Er verzog das Gesicht; dann lächelte er und schüttelte den Kopf.
»Verdammte Finger.« Er nahm einen Schluck von dem Espresso, schmatzte zufrieden mit den Lippen und stellte die Tasse ab. Dreimal schloss er die Hand zur Faust und öffnete sie wieder. »In letzter Zeit ist es schlimmer geworden. Erinnern Sie sich an unsere erste Begegnung? Als Sie mir von den Bullen erzählten und mir sagten, ich hätte kaputte Finger?«
»Ja.«
Carmine trank wieder einen Schluck Kaffee. »Habe ich Ihnen je erzählt, wie es passiert ist?«
»Nein.«
»Eine seltsame Geschichte.« Er ließ sich in die Polster zurücksinken. »Es passierte im Sommer 1970. Ich war bei der Marine. Wir lagen in Boston und warteten auf das Auslaufen nach Übersee. Waren Sie je in Boston?«
»Nein.«
»Dann müssen Sie mal hin. Tolle Stadt. Wir bekamen überNacht Landurlaub, und ich habe den besten Hummer Fra Diavolo meines Lebens gegessen. Aber Sie mögen keine Meeresfrüchte, oder?«
»Nein, ich mag sie nicht.«
Carmine zeigte auf den Tisch. »Trinken Sie Ihren Kaffee, solange er heiß ist. Warum muss ich es Ihnen immer erst sagen?«
Die Antwort war, dass Geiger den Kaffee im La Bella nicht mochte und ihn nicht trank, wenn er von Carmine nicht dazu aufgefordert wurde. Also hob er die Tasse und nippte daran.
»Aber zurück zu meiner Geschichte«, sagte Carmine. »Wir liegen also in Boston und warten auf das Auslaufen. Um die Zeit totzuschlagen, gehe ich spazieren. Irgendwann verirre ich mich nach Cambridge und höre jemanden, der über Lautsprecher zu einer Zuhörermenge redet. Ich durchquere einen Torbogen in einer Ziegelmauer, und wissen Sie, wo ich bin?«
»Nein.«
»Ich stehe in einem Hof der Harvard University. Da findet eine Kundgebung statt. Gegen den Krieg in Vietnam. Ein Meer aus Batik-Shirts und langen Haaren. War vor Ihrer Zeit. Auf den Stufen zu einem Gebäude steht ein Kerl mit einem Mikrofon und hält eine Rede. Ich stehe ganz hinten in der Menge, und dieser Junge direkt vor mir dreht sich um – ein echter Jesus in Jeans. Er mustert mich von oben bis unten. Ich trage meinen weißen Matrosenanzug, die Mütze im kecken Winkel schräg auf dem Kopf wie John Wayne, und er fragt: ›Was suchst du denn hier?‹ Und dann spuckt er mir auf die Schuhe. Er spuckt mir auf die Schuhe! Wissen Sie, wie lange ich diese Schuhe jeden Tag putzen musste?«
Geiger trank wieder einen Schluck Kaffee.
»Also hole ich aus, um ihm eine zu verpassen, aber ehe ich ihn treffe, springt er hoch und tritt mich vor die Brust, und ich lande auf dem Hintern. Karate, Kung-Fu, keine Ahnung – es war wie im Film. Der Bursche wog vielleicht sechzig Kilo, und er wirft mich auf den Hintern wie einen Sack Kartoffeln. Ichstehe auf, hole wieder mit der Rechten aus und will ihn k.o. schlagen – und haue voll gegen einen Laternenpfahl. Ich jaule wie ein Hund, und der Bursche schlendert davon, als wäre nichts gewesen. Ich hab’s nie geschafft, ihm eine zu verpassen. Aber wissen Sie was? Ich hatte zwei ausgerenkte Finger, genau wie Sie sagten, und einen zerschmetterten Knöchel, und als mein Schiff nach Nam ausläuft, stehe ich mit der Hand in Gips am Kai. Ich bin nie drüben gewesen. Dieser kleine Harvard-Wichser hat mich vor dem Krieg bewahrt.«
Carmine trank seinen Kaffee zur Neige. Geiger nahm ebenfalls einen Schluck.
»Was gibt’s Neues bei IR?«
Geiger stellte die Tasse ab. Jetzt war er dran. In seinen Schläfen pochte es.
»Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Geschäftlich?«
»Ich brauche eine Waffe.«
Die blauen Augen blitzten auf. »Wozu?«
Geiger wollte ihm nicht die ganze Geschichte
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