Der Spiegel der Königin
schne l lem Trab bewegte er sich genau auf Elin zu. Sie zurrte den Zügel fest und huschte zum Karren, das lose Ende des Zügels in der Hand. Hinter dem Karren ging sie in Deckung. Der Trab wurde langsamer. Reite weiter!, flehte Elin in G e danken. Doch das Pferd blieb stehen. Elin spähte hinter dem Wagen hervor. Der Kurier hatte sein Pferd angeha l ten und starrte den Kutschzügel an, der quer über der Straße lag. Elin winkte ihm zu und machte e ine warnende Handbewegung. Er verstand und gab se i nem Pferd die Sporen. Sein Wallach sprang über den Z ü gel am Boden und flog los wie ein Pfeil, der von der B o gensehne schnellt. Elin wand die Zügel um die Spe i che des Karrenrads und hielt das Ende mit beiden Hä n den fest. Galoppschlag näherte sich. Gerade noch rech t zeitig spähte sie unter dem Wagen hindurch, um die Pferdebe i ne zu erkennen, dann warf sie sich nach hinten und zog mit aller Kraft am Seil. Der Zügel schnellte vom Boden hoch und spannte sich quer über die Straße. Der plötzl i che Ruck drohte ihr die Arme aus den Gelenken zu h e beln. Ein brennender Schmerz zuckte durch ihre Han d flächen. Gepolter und ohrenbetäubendes Gebrüll ertönte. Die Fässer tanzten über die Straße und brachten die Pfe r de zu Fall, der Karren rutschte weg. Elin wurde gegen die Hauswand geschleudert. Ein Fass schlingerte auf sie zu. Gerade noch rechtzeitig konnte sie zur Seite springen, bevor es die Hauswand genau an der Stelle traf, an der sie sich eben noch befunden hatte. Auf der Straße wuc h tete sich eines der gestürzten Pferde wieder auf die Beine und schüttelte benommen den Kopf. Sein Reiter wand sich schreiend im Schneematsch und hielt sich das ve r letzte Bein. Innerhalb von wenigen Sekunden verwande l te sich die menschenleere Gasse in einen Jahrmarkt. Fenster fl o gen auf, Menschen strömten aus den Häusern. Das zweite Pferd hatte sich im Zügel verheddert und trat in seiner P a nik nach allem, was sich ihm näherte. Elin stüt z te sich an der Hauswand ab und kam benommen auf die Beine. Im selben Augenblick stand der Mann mit dem Federhut auf und sah sie an. Sein blutüberströmtes G e sicht wirkte wie eine rote Maske. Die Feder klebte an seiner Wange und v erdeckte seine Züge. Als er seine Hand ausstreckte und auf Elin deutete, stand sein kleiner Finger ab, als wäre er ausgerenkt. Elin ließ endlich den Zügel los und begann zu rennen. Eine Hand riss an ihrem Wolltuch. Sie ließ es ei n fach zurück und schlitterte we i ter. »Haltet sie!«, brüllte eine Männerstimme. Zum Glück war ihr Rock noch hochgebunden, was das Rennen e r leichterte. Wie vom Teufel gejagt, hetzte sie um die E c ke. Eine Gruppe von Frauen stob erschrocken auseinander. En t setzt starrten sie auf Elins verschmutzten Rock und ihre bloßen Beine.
»Dahinten!«, schrie sie den Frauen zu. »Er wollte mich schänden! Haltet ihn auf!«
Als sie das Ende der Straße erreicht hatte, hörte sie hinter sich Gebrüll und Gezeter. Mistgabeln stießen mit einem trockenen Knall gegeneinander. Die Frauen schrien: »Schändung!« Elins Verfolger brüllten: »Mord!« Elin sprang in eine Seitenstraße, hetzte die Treppen einer schmalen Gasse hinauf und kletterte über eine Mauer. Mit einem schmerzhaften Satz landete sie in einem kle i nen Hinterhof, in dem ein Holzstapel lag. Dahinter ve r kroch sie sich. Ihre Lungen fühlten sich an, als hätte sie eine Hand voll Nadeln verschluckt, und ihre Hände brannten höllisch. Erst jetzt sah sie, dass ihr die Zügel blutige Schürfwunden zugefügt hatten. Rufe und tra p pelnde Schritte ertönten. Elin drückte sich noch dichter an den Holzstoß.
»Hier ist sie nicht!«, rief eine Frau. »Das arme Ding! Sicher ist sie zum Hötorget gelaufen!« Elin kauerte sich zusammen und schloss die Augen. Der Schock ebbte nur langsam ab. Der Kurier ist auf dem Weg, wiederholte sie in Gedanken immer w ieder wie ein beruhigendes Gebet. Es dauerte lange, bis sie es wagte, hinter dem Holzstapel hervorzuko m men. Erst als die Dunkelheit sich längst wieder über die Stadt gelegt hatte, kroch sie völlig durchgefroren hervor und kletterte schwerfällig auf die Straße. Noch länger dauerte es, bis sie den Weg zum Schloss fand, immer auf der Hut, immer in der Erwa r tung, entdeckt und festg e nommen zu werden. In weitem Bogen umrundete sie die Gegend um den Hötorget und huschte von Nische zu N i sche bis zur Brücke. Das Schloss erschien ihr wie ein fremder Ort aus einem Mä r chen. Ihre Füße trugen sie kaum
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