Der Spiegel der Königin
T a ge unter Lovisas Obhut schienen ihr ein Stück Sicherheit geraubt zu haben. Sie fühlte sich allein und fehl am Platz. Die Welt, die früher die ihre gewesen war, war ihr en t glitten und in die Ferne gerückt. Bei jedem Schritt bildete sie sich ein, das Papier, das in ihrem Rock eingenäht war, rascheln zu hören. Jeder musste es hören! Erst nachdem sie den Stortorget überquert hatte und in das Gewühl der Straßen eingetaucht war, begann sie wieder Boden unter den Füßen zu spüren. Die meisten Gassen waren so breit, dass Kutschen hindurchfahren konnten. Aber es gab auch schmalere mit steilen Treppen. In diese Schluchten zw i schen den Häusern fiel nur spärliches Licht. Und obwohl es Tag war, brannten in den Werkstätten Kerzen und Ö l lampen. Elin legte den Kopf in den Nacken und betrac h tete die schmalen weißen Schornsteine, die Treppengi e bel und die eisernen Ankerklemmen an den Fassaden, die die Wände der Häuser zusammenhielten. Ganz oben zwinkerte nur ein schmaler Streifen Himmel auf die Stadt herunter. Hinter den vereisten Fenstern sah sie Schuhm a cher und Knop f schnitzer bei der Arbeit. Sie hörte die regelmäßigen Schläge der Kupferstecher und fasste nach und nach Mut, sich die Menschen, die ihr entgegenk a men, genauer a n zusehen. Manche der Bürger schmückten sich nach eur o päischer Mode mit Perücken, andere waren altmodisch gekleidet. Die Flamen trugen Schuhe mit r o ten Sohlen und Absätzen. Elin folgte einer Gruppe von ihnen quer durch die Stadt bis zum Stadttor und schlüpfte dort rasch an ihnen vorbei. Über die Brücke verließ sie dann die Stadtinsel. Weit vor ihr erhob sich der Brunk e berg. Die Flügel der roten Windmühlen bewegten sich träge im Wind. Verstohlen blickte sie sich um, aber ni e mand fol g te ihr. Bauern trieben Schweine zum Markt oder trugen Hühner in Käfigen auf dem Rücken dorthin. Der Höto r get selbst war der größte Markt, den Elin je gesehen ha t te. Es mussten hunderte von Menschen sein, die hier ihre Waren feilboten! Milchkrüge, Schafe, Eier, Hühner, Gerätschaften für die Küche – alles gab es hier zu ka u fen. Der Duft von Torffeuer vermischte sich mit dem Geruch von Kuhmist und dem Aroma von siedender Fischsuppe. In Kohlepfannen wurde sogar frischer Fisch geröstet.
Simon Jüterbocks Haus war unscheinbar und lag in e i ner Seitengasse, nicht weit von der breiten Hauptstraße entfernt. Nur das Kupferschild mit einem aufgemalten Sattel wies darauf hin, dass sich hier eine Sattlerei b e fand. Elin zögerte und blieb stehen. Sie nahm ihren Korb hoch und tat so, als w ürde sie die Dinge darin ordnen. Leute drängten an ihr vorbei. Auf der anderen Straße n seite lehnte ein Mann mit einem Federhut an einem Ka r ren und schnitt mit e i nem kleinen Messer einen Apfel in Stücke. Sein Gesicht konnte sie unter der Hutkrempe nicht erkennen. Er trug Handschuhe. Sein kleiner Finger stand steif und geziert ab. Elin ließ ihren Blick weite r wandern, bis sie sich schließlich ein Herz fasste und an Jüterbocks Tür klopfte. Sie öffnete sich beinahe auge n blicklich und ein strenges Gesicht erschien. Die Haut des Mannes sah aus, als hätte ein Rotgerber sie ein wenig zu gründlich bearbeitet.
»Simon Jüterbock?« Der Mann nickte. In ihrem R ü cken glaubte Elin die stechenden Blicke von Spähern zu fühlen. Mit einer kaum merklichen Geste schüttelte sie das Siegel aus dem Ärmel und ließ es Jüterbock einige Sekunden lang sehen.
»Ich komme wegen der neuen Kutschzügel«, sagte sie laut. Simon nickte und ließ sie eintreten. Im Inneren der Werkstatt arbeiteten zehn Leute. Ein Geselle, der dabei war, einen Sattelrahmen mit Leder zu beziehen, ließ die Hände sinken und musterte Elin mit besorgtem Blick.
»Die Zügel habe ich im Hof«, sagte Simon und ging voraus. Mit weichen Knien folgte Elin ihm. Natürlich führte der Weg nicht in den Hof, sondern in eine kleine Kammer. Sorgfältig verschloss Simon die Tür und drehte sich zu ihr um.
»Der Brief«, flüsterte er. »Du hast ihn bei dir?«
Elin nickte. Simon wandte höflich den Blick ab, wä h rend sie ihr kleines Nähmesser aus dem Korb holte und die Naht an ihrem Rocksaum auftrennte. Der versiegelte Brief lag schwer in ihrer Hand. Simon Jüterbock nahm das Papier entgegen.
»Ich habe auch einen weiteren Brief dabei«, sagte Elin leise. »Falls der Bote abgefangen wird, soll er diesen hier aushändigen. Das wird ihm Zeit geben, das richtige D o kument zu vernichten.« Mit diesen Worten zog
Weitere Kostenlose Bücher