Der Spiegel von Feuer und Eis
alt, dass niemand mehr weiß, wann er geschaffen wurde oder
von wem. Er war das Gleichgewicht zwischen Feuer und Eis. Solange er unversehrt war, folgte auf den Winter der Frühling, auf den Frühling der Sommer, auf den Sommer der Herbst, auf den Herbst der Winter, und auf den Winter schließlich wieder der Frühling. Ein unendlicher Kreis von Werden und Vergehen. Doch dann zerschlug die Eiskönigin den Spiegel, verdammte die Welt damit zu ewigem Winter und nahm dem Lord des Feuers so seine Macht. Ein Teil der Spiegelsplitter verteilte sich über das Land und gelangte in den Besitz von Sterblichen. Doch der überwiegende Teil blieb in jener Höhle, tief im Inneren des Weißen Avaën. Mein Herr hat lange nach den verlorenen Spiegelteilen gesucht, und bis auf einige wenige befinden sie sich wieder an dem Ort, an dem Feuer und Eis sich vereinen. Beinah ebenso lange hat er nach demjenigen Ausschau gehalten, von dem die alten Zauber sprachen; jemand, der in der Lage sein würde, den Spiegel zusammenzufügen und zu heilen. Schließlich spürte er eine junge Hexe auf, die das Wispern der Edelsteine hören und die Risse und Sprünge in ihnen heilen konnte. Doch sie stellte sich als zu schwach heraus, um das Gleiche mit dem Spiegel tun zu können. So vertraute der Lord des Feuers ihr und ihren Kindern das Herz des Spiegels an: ein Juwel, das man Das Auge des Feuers nennt. Sobald sie oder eine ihrer Nachkommen in der Lage wäre, die Wunden dieses Juwels zu heilen, würde sie das Gleiche auch mit dem Spiegel tun können. Unzählige Jahre gingen ins Land, bis zu dem Tag, an dem es Euch endlich gelang. – Unglücklicherweise fand der Eisprinz Euch vor mir und verschleppte Euch in den Palast seiner Mutter.«
»Aber warum erst jetzt? Ich meine, hätte der Lord des Feuers mich nicht schon viel früher zu sich bringen lassen können?« Cassim zog die Schultern hoch. Bevor Mama und Papa verbrannt sind. Der Gedanke hinterließ einen seltsam bitteren Geschmack auf ihrer Zunge. Im Feuer gestorben!
»Er wusste nicht, wo Ihr wart.«
Verwirrt sah sie Jornas an. Der nickte seufzend.
»Als er der Hexe damals Das Auge des Feuers übergab, ahnte mein Herr, dass auch die Eiskönigin sich auf die Suche nach jemandem machen würde, der den Spiegel wieder zusammenfügen könnte. Deshalb belegte er das Juwel mit einem Zauber, der seine Trägerin vor jedem schützen sollte, der nach ihr und ihrer Gabe suchen würde. Erst wenn Das Auge des Feuers geheilt wäre, würde der Zauber aufgehoben werden, sodass er sie finden könnte.«
»Aber damit konnte auch die Eiskönigin sie finden.« Ein Schauder überlief Cassim.
»Ja, leider. Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Ich bedaure, dass ich es war, der ihn verloren hat, und Ihr all das erdulden musstet. – Versteht Ihr jetzt, Menschenmädchen? Wird der Spiegel wieder zusammengefügt, wird die Macht der Eiskönigin gebrochen. Es wird nicht mehr nur den Winter mit Schnee und Eis geben, sondern auch wieder den Frühling und Sommer mit ihrer Wärme. Korn wird wieder wachsen, und Blumen und Früchte. – Und Ihr seid diejenige, die all dies zurückbringen kann.«
»Aber warum wollte auch die Eiskönigin, dass ich den Spiegel zusammensetze?«
Wieder ließ Jornas ein Seufzen hören. »Weil es viele Möglichkeiten gibt, die Spiegelsplitter zusammenzufügen. Es liegt bei Euch, ob Ihr ihn in seiner alten Form zusammensetzt und er wieder zum Gleichgewicht zwischen Feuer und Eis wird, oder ob Ihr seine Splitter so anordnet, dass sich das Gleichgewicht zugunsten einer Macht verschiebt.« Er schauderte bei diesem Gedanken sichtlich.
Cassim schaute ihn eine ganze Weile nachdenklich an, dann streifte sie die Handschuhe ab und schob die Hände unter dem Mantel hervor. Sofort biss die Kälte in ihre Haut. Frühling? Sommer? Blumen, wie jene, die ich aus Papas Büchern kenne? Wie die, die ich im Palast der Eiskönigin gesehen habe? All die Dinge, von
denen ich immer geträumt habe, wahrhaftig sehen können? Berühren können? Sie legte den Kopf in den Nacken, blickte zur Sonne hinauf.
»Wenn Ihr ein wenig Zeit braucht, um Euch zu entscheiden …« Neben ihr schickte Jornas sich an aufzustehen.
»Nein.«
Der Faun erstarrte. »Nein?«, fragte er seltsam angespannt.
Cassim sah ihn an. »Nein, ich brauche keine Zeit, um mich zu entscheiden. Ich werde den Spiegel für den Lord des Feuers zusammenfügen. Ich werde ihn in seiner alten Form zusammenfügen.« Sie verstummte hilflos. »Aber woher soll ich wissen, wie die
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