Der Spion, der aus der Kälte kam
Berliner Büro geführt werden können. Ich hätte es gewußt, verstehen Sie! Wie oft soll ich das sagen? Ich hätte davon gewußt!«
»Ganz recht«, sagte Fiedler sanft. »Natürlich hätten Sie davon gewußt!« Er stand auf und ging zum Fenster.
»Sie sollten die Gegend hier einmal im Herbst sehen«, sagte er, während er hinaussah. »Es ist wundervoll, wenn die Buchen sich färben.«
13NADELN ODER KLAMMERN
Fiedler liebte es, Fragen zu stellen. Manche stellte er nur zu seinem eigenen Vergnügen, da es ihm als Juristen Spaß machte, den Widerspruch zwischen Augenschein und tieferer Wahrheit aufzudecken. Er besaß eben jene beharrliche Wißbegierde, die bei Journalisten und Rechtsanwälten oft Selbstzweck ist.
An diesem Nachmittag machten sie einen Spaziergang. Sie folgten der sandigen Straße ins Tal hinunter und gingen dann auf einem ausgefahrenen Weg, neben dem geschlagenes Holz gestapelt war, in den Wald hinein. Während der ganzen Zeit bohrte Fiedler mit seinen Fragen weiter, ohne selbst etwas beizusteuern. Er wollte mehr Einzelheiten über das Gebäude am Cambridgerondell wissen und über die Menschen, die dort arbeiten. Aus welcher sozialen Schicht kamen sie, in welchem Teil Londons wohnten sie, durften Ehepaare in der gleichen Abteilung arbeiten? Er fragte nach Einkommen, Urlaub, Moral, Kantine, nach Liebesleben, Klatsch und Weltanschauung. Am meisten fragte er nach ihrer Weltanschauung.
Für Leamas war das die schwerste Frage von allen.
»Was meinen Sie mit Weltanschauung?« fragte er. »Wir sind keine Marxisten, wir sind nichts. Bloß Menschen.«
»Sind sie dann Christen?«
»Nicht viele, würde ich sagen. Ich jedenfalls kenne nicht viele.«
»Weshalb tut man dann diese Arbeit?« beharrte Fiedler. »Sie müssen doch eine Weltanschauung haben.«
»Warum müssen sie? Vielleicht wissen sie es nicht, wahrscheinlich kümmerte sie es nicht einmal. Es hat nicht jeder Mensch eine Weltanschauung«, antwortete Leamas ein wenig hilflos.
»Dann verraten Sie mir wenigstens Ihre eigene Philosophie!«
»Großer Gott«, seufzte Leamas. Sie gingen eine Weile schweigend weiter. Aber Fiedler ließ sich damit nicht abweisen.
»Wenn sie nicht genau wissen, was sie wollen - wie können sie behaupten, im Recht zu sein?«
»Wer, zum Teufel, hat gesagt, dass sie das behaupten?« erwiderte Leamas gereizt.
»Aber womit rechtfertigen sie dann ihre Arbeit? Womit? Für uns ist das leicht. Das habe ich Ihnen schon letzte Nacht erklärt. Die ›Abteilung‹ und ähnliche Organisationen sind der verlängerte Arm der Partei, sozusagen die Vorhut im Kampf für Frieden und Fortschritt. Sie haben für die Partei die gleiche Bedeutung, die die Partei für den Sozialismus hat: sie sind die Vorhut.« Fiedler lächelte trocken: »Stalin hat einmal gesagt - es ist nicht modern, Stalin zu zitieren -, aber Stalin hat einmal gesagt, eine halbe Million Liquidierte seien Statistik, während ein einzelner Mensch, der bei einem Verkehrsunfall getötet wird, eine nationale Tragödie darstellt. Er lachte über die bürgerliche Gefühlsduselei der Masse, verstehen Sie? Er war ein großer Zyniker. Aber das, was er damit ausdrücken wollte, gilt noch immer:
Eine Bewegung, die sich vor der Gegenrevolution zu schützen hat, kann es sich kaum leisten, auf die Ausnutzung oder sogar auf die Vernichtung einiger Einzelwesen zu verzichten. All dies ist ein großer Zusammenhang. Wir haben nie behauptet, dass es bei dem Prozeß der vernünftigen Umgestaltung der Gesellschaft völlig gerecht zugeht. Aber hat nicht irgendein Römer in der Bibel gesagt, es sei der Tod eines einzelnen angebracht, wenn er dem Wohl vieler dient?«
»Ich nehme es an«, sagte Leamas müde.
»Also, wie denken Sie, was ist Ihre Philosophie?«
»Ich glaube, dass ihr alle miteinander Saukerle seid«, sagte Leamas wütend.
Fiedler nickte. »Das ist ein Standpunkt, den ich verstehe. Er ist primitiv, negativ und sehr dumm - aber es ist ein Standpunkt. Er existiert. Aber wie steht's mit dem Rest des Rondells?«
»Ich weiß nicht. Wie sollte ich auch?«
»Haben Sie mit Ihren Kollegen nie über Weltanschauung diskutiert?«
»Nein. Wir sind keine Deutschen.« Er zögerte und fügte dann unbestimmt hinzu: »Den Kommunismus lehnen sie, glaube ich, ab.«
»Und damit rechtfertigt man beispielsweise die Opferung menschlichen Lebens? Das rechtfertigt die Bombe im überfüllten Lokal, die Verlustrate eurer Agenten - all das wird dadurch gerechtfertigt?«
Leamas zuckte die Achseln. »Ich
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