Der Spitzenkandidat - Roman
war zwar gläubig, aber nicht fromm, gebetet hatte er seit seiner Jugend nicht mehr. Jetzt schottete er sich gegen die Worte des Bischofs ab. Als die Messe nach einer Dreiviertelstunde vorbei war, hatte er in Gedanken die Presseerklärung für kommenden Montag formuliert.
Im Hinausgehen bemerkte er Marion Klaßen, das dunkelblaue Kostüm ließ sie älter aussehen. Sie wirkte nervös und schien es eilig zu haben. Nachdem sie den Platz vor der Marktkirche erreicht hatten, bat Wagner seine Frau, auf ihn zu warten. Er musste sich sputen, um Marion einzuholen. Sie schaute sich hektisch um und schien erleichtert, ihn zu sehen. Fast so, als ob sie erwartet hatte, von jemand anders verfolgt zu werden. Von jemandem, mit dem sie nicht sprechen wollte.
„Ach, Sie sind es nur.“
Das „nur“ störte Wagner nicht. Er war es gewohnt, in der zweiten Reihe zu stehen. Immer standen seine Chefs im Vordergrund, von ihm wurde Zurückhaltung erwartet, manchmal auch Unsichtbarkeit. „Hallo, Frau Klaßen, wie sieht es mit einem Treffen aus? Sie wollten wieder anrufen.“
„Ach ja, stimmt. Momentan sieht es schlecht aus. Vielleicht Ende nächster Woche. Vorher muss ich verreisen. Eine Dienstreise nach Vaduz, ist schon länger geplant.“
Wagner war enttäuscht, aber er kannte den engen Terminplan von Politikern. Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, Hannover für einige Tage zu verlassen. Man kam auf andere Gedanken.
„Und sonst?“, sagte sie. „Der Mordfall, gibt’s etwas Neues?“ „Nicht dass ich wüsste. Ehrlich gesagt, habe ich allmählich Zweifel, ob die den Täter überhaupt noch finden. Die Chance wird ja mit jedem Tag kleiner. Vielleicht gehört der Fall zu den fünf Prozent der Mordfälle, die nicht aufgeklärt werden.“
„Oder sie wollen den Täter gar nicht finden. So wie damals, Sie erinnern sich, der Fall Uwe Barschel!“
Überrascht starrte Wagner die Abgeordnete an.
„War nur so ein Gedanke“, beeilte sich Marion zu sagen. „Die Stimmung in der Kirche eben, die vielen Leute, ich muss mich erst wieder sammeln.“
Ihre Verabschiedung wirkte wie eine Flucht. Wagner schaute ihr hinterher. Sie würde sich nicht bei ihm melden. Was hatte sie gesagt: Uwe Barschel? Wie kam sie nur darauf?
Monika kam ihm entgegen, ihr Blick war unfreundlich.
„Wer war das denn?“
„Eine politische Freundin“, antwortete Wagner beflissen. Er wusste, wie gestelzt er sich anhörte.
43
Das Parkhaus neben dem Schlosspark erreichte sie Viertel vor zwölf. Von hier waren es fünf Minuten zur Celler Altstadt, in der geschäftiges Treiben herrschte. Das italienische Restaurant war in einem der schmucken Fachwerkhäuser aus dem 17. Jahrhundert untergebracht. Platz fanden maximal 20 Personen, die Küche war gut, die Preise bezahlbar. Eine ältere Frau mit Kopftuch wischte den Fußboden. Marion fragte nach dem Inhaber. Die Frau antwortete in einer fremden Sprache. Als Marion nachbohrte, gestikulierte sie wild und deutete in die hinteren Räume. Eine von den Zuwanderinnen aus Anatolien, die hier leben und die Sprache nicht beherrschen, dachte Marion. Dann ging sie nach hinten. Das Büro war winzig, mehr ein Verschlag. Immerhin stand ein Schreibtisch darin und auch ein Beistelltisch, unsichtbar unter Akten und Zeitschriften. Giorgio hob den Kopf. In dem unrasierten Gesicht mit immer noch pechschwarzen Haaren ging die Sonne auf. Er stand auf und schloss sie in die Arme. Er roch nicht mehr wie früher. Marion dachte: neue Frauen, neuer Geruch. Er nannte sie Bella und Schatz und wusste aus dem Stand, wann sie sich zuletzt gesehen hatten: vor zwei Jahren und drei Wochen. Dann sagte er ihr, wie sehr er sie vermisste.
Marion erwiderte: „Wenn ich Schluss mache, meine ich das auch so. Den Grund kennst du.“
Sie hätte es vorgezogen, in dem winzigen Raum zu sprechen. Giorgio lotste sie zur Theke ins Reich seiner professionellen Kaffeemaschinen, von denen er eine in Gang setzte. Angeblich mussten sie sich vor Aischa nicht in Acht nehmen, denn sie würde, obwohl seit 15 Jahren in Celle, kein Deutsch verstehen.
Marion kam unverzüglich zur Sache: „Es geht um Pino, ich brauche seine Hilfe.“
Darauf war Giorgio nicht gefasst.
„Du brauchst Pinos Hilfe? Du bist doch im Landtag. Seid ihr so in Not, dass ihr die Hilfe der Cosa Nostra braucht? Armes Deutschland.“
„Es geht um eine private Angelegenheit. Eine Freundin von mir wird bedroht.“
„Und weshalb gehst du nicht zur Polizei? Die deutsche Polizei ist doch stark und
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