Der Stachel des Skorpions
einer leichten Verbeugung. »Ich weiß dieses Entgegenkommen zu schätzen.«
Sie zuckte auf eine Art und Weise die Achseln, die mehr aussagte, als manch anderer in mehrere Sätze fassen konnte. »Sie sind ein ruhiger Gast, Monsieur, und Sie hin terlassen in Ihrem Zimmer kein Schlachtfeld. Ich wäre dumm, würde ich zulassen, dass ich Sie ans Hotel >Duquesne< verliere.« Sie zog eine Plastikkarte aus einem der Fächer in der Wand hinter sich und reichte sie Jonah. »Ihr Schlüssel. Werden Sie uns diesmal lange beehren?«
»Sehr lange, fürchte ich«, erklärte er bedauernd. »Diese Gelegenheiten erfordern sehr viel Vorbereitung. Nicht einmal Damien Redburn kann eine Wahl aus dem Ärmel schütteln.«
»Wie wahr, Monsieur.«
Jonah betrachtete Madames höfliches, aber unbeteiligtes Gesicht und fragte sich, welchem Kandidaten für das Exarchenamt sie den Vorzug geben würde. Nicht dass Devlin Stone diese Entscheidung dem Volk anvertraut hätte: Er hatte sich stattdessen entschieden, sie in die Hände der Paladine zu legen.
Trotzdem, dachte Jonah, ein weiser Mann bedenkt die Wünsche derer, die mit seiner Entscheidung leben müssen. Er überlegte, ob er Madame geradeheraus fragen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Madame Flambard sprach mit ihren Gästen niemals über Politik oder Privates. Es wäre falsch gewesen, aus reiner Neugierde von ihr zu verlangen, ihre Geschäftsprinzipien zu verraten.
Er nahm seinen Schlüssel und stieg die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Eine einzelne Reisetasche hatte er vom Raumhafen mitgebracht. Der Rest seines Gepäcks würde später mit dem Taxi folgen.
Nachdem er die Türe hinter sich abgeschlossen hatte, gestattete er sich, in der vertrauten Atmosphäre des Zimmers zu entspannen. Madame Flambard ersetzte zwar die Einrichtung, wenn sie defekt oder sichtbar abgenutzt war, das Dekor der Pension hatte sie jedoch
- seit Jonah sie kannte - unverändert beibehalten. Die gebügelten und gestärkten Vorhänge im Blumenmuster, der gewachste Holzboden mit den darauf verteilten Teppichen, das Holzbett, der Schreibtisch und der Stuhl im selben antiken Stil - all dies war noch genauso wie bei seinem ersten Aufenthalt.
Das gefiel ihm. Es gab zu viele Dinge im Leben, die sich zu schnell veränderten. Es war schön, wenn es auch etwas von Dauer gab.
Er ging hinüber zur Datenkonsole des Zimmers, die im Rollpult des Schreibtischs versteckt war. Nach kurzem Überlegen setzte er einen Brief an seine Frau Anna zu Hause auf Kervil auf:
Ich bin sicher in Genf angekommen. Die Reise war ereignislos und entsprechend langweilig, aber manche Dinge werden auch nicht besser, wenn sie interessant sind. Und meiner Ansicht nach gilt das auch für Raumflüge.
Alle Paladine wurden ins Solsystem gerufen, allerdings sind ein oder zwei noch unterwegs. Nach allem, was ich auf der Reise gelesen und selbst gesehen habe, ist ziemlich klar, dass unsere Gegenwart hier für einige politische Unruhe sorgt. Demonstranten füllen die Straße, und jeder, dem ich begegne, scheint einen bestimmten Standpunkt zu vertreten und einen bevorzugten Kandidaten für das Exarchat zu haben, obwohl keiner von ihnen bei dieser Wahl eine Stimme hat. Das bedeutet aber nur, dass sie andere Wege suchen, Einfluss auszuüben. Manche entscheiden sich dafür, mit Transparenten durch die Straßen zu ziehen, andere verursachen ausreichend gewaltsame oder zerstörerische Ausschreitungen, um in die Nachrichten zu kommen, und wieder andere - obwohl ich davon bisher nur Gerüchte gehört habe - scheinen entschlossen zu sein, ihren Willen durchzusetzen, indem sie die stimmberechtigten Paladine einschüchtern.
Offensichtlich kennen sie meine Mit-Paladine nicht allzu gut.
Es gibt Splittergruppen jeder Provenienz. Manche vertreten die Meinung, die Republik sollte in der derzeitigen Krise nicht nur ihre bestehenden Grenzen verteidigen, sondern sie ausdehnen. Andere sind der Ansicht, sie sollte sich aus den Regionen zurückziehen, wo sie die schwersten Rückschläge erlitten hat und zu geschwächt ist: den Kern retten und dafür ein paar der Welten am Rand opfern.
Und das sind noch die geistig relativ Normalen. Ich will gar nicht von denen anfangen, die glauben, Devlin Stone läge schlafend unter irgendeinem Berg, vermutlich in Gesellschaft von König Artus, Karl dem Großen, Friedrich Barbarossa und des verborgenen Imams, und warte darauf, zurückzukehren und uns aus der Stunde der größten Not zu erretten. Oder sogar noch größeren
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