Der Stalker
Gefühle aufbrachte, hatte die Entscheidung ihr überlassen. Sie hatten sich Objekte in ganz Colchester angesehen, aber am Ende hatte sie doch nicht wegziehen können. Es war, als hielte sie etwas fest, als zöge sie etwas beharrlich immer wieder an ihren alten Wohnort zurück. Schließlich hatte sie dem Gefühl nachgegeben, und sie hatten dieses Haus gekauft.
Inzwischen war sie nicht mehr so sicher, ob das die richtige Entscheidung gewesen war.
Noch ein Schluck Wein. Sie sah sich um. Das Wohnzimmer, wie auch der Rest des Hauses, wirkte noch ein bisschen seelenlos. Bisher hatten sie nur für das Nötigste gesorgt – Möbel, den Fernseher, die Stereoanlage. Die Bücherregale waren noch leer, die Wände kahl, und überall standen Kartons herum. Das Haus war kein Heim. Noch nicht. Würde es aber hoffentlich bald werden.
Hoffentlich.
Sie warf einen Blick auf die Uhr und fragte sich, wann Phil wohl kommen würde. Sie hatte bereits zu Abend gegessen und sich vorgenommen, früh ins Bett zu gehen, weil sie wusste, dass Josephina sie in der Nacht mindestens einmal wecken würde. Vielleicht würden sie sich gar nicht mehr sehen. Sie wusste nicht, ob das gut oder schlecht war.
Phil war ihr Seelenverwandter. Daran hatte sie niemals gezweifelt. Gleich bei ihrer ersten Begegnung hatte sie eine Verbindung zu ihm gespürt wie noch nie zuvor zu irgendjemandem sonst. Sie verstanden sich vollkommen, denn jeder sah im anderen die gleichen Wunden, den gleichen Verlust und die gleiche Trauer wie in sich selbst. Und sie wussten, dass jeder für sich allein genommen ein unvollständiger Mensch war. Erst zusammen ergaben sie ein Ganzes.
Seine Kindheit in der verrohten Atmosphäre staatlicher Heime und bei lieblosen Pflegeeltern ähnelte der ihren. Sie war mit einem gewalttätigen Vater aufgewachsen, einer emotional abwesenden Mutter und Brüdern, die sie nie im Leben wiedersehen wollte. Phils Rettung waren Don und Eileen gewesen. Marinas Rettung ihr Verstand. Ihr Studium und die Stelle als praktizierende Psychologin hatten bedeutet, dass sie ihrer Vergangenheit ein für alle Mal den Rücken kehren konnte.
Normalerweise konnte Marina schmalzige Kalendersprüche über Beziehungen nicht ausstehen, aber in diesem einen Fall stimmte es: Phil war ihre fehlende zweite Hälfte. Und sie seine.
Es war alles so klar, so einfach. Wenn es nicht noch einen Dritten in ihrem Bunde gegeben hätte.
Mit Josephina hatte es nichts zu tun. Sie beide waren gleichermaßen außer sich vor Glück, eine kleine Tochter zu haben. Josephina war der stolze Beweis ihrer Liebe, ihrer Verantwortung füreinander, ihrer vollkommenen Harmonie.
Zumindest hätte sie es sein sollen. Und wenn es nur sie drei gegeben hätte, dann wäre es vielleicht auch so gewesen.
Aber …
Sie nahm das Buch von der Armlehne des Sessels. Versuchte, alles andere beiseitezuschieben und ganz in die Geschichte einzutauchen. James M. Cains Doppelte Abfindung . Sie hatte es in einem der Umzugskartons gefunden. Sie hatte es nicht mehr in der Hand gehabt, seit sie es auf der Uni für ein Seminar hatte lesen müssen, und nun beschlossen, es sich noch mal vorzunehmen.
Es war die Geschichte zweier Menschen, die jeweils im anderen eine innere Verwandtschaft entdecken, eine Wunde, die sie selber auch haben. Die beiden verlieben sich leidenschaftlich ineinander, und das Einzige, was dieser Liebe im Weg steht, ist der Ehemann der Frau. Um endlich zusammen sein zu können, ermorden sie ihn, aber sobald die Tat vollbracht ist, müssen sie erkennen, dass ihre Schuld sie auf eine kranke, zerstörerische Weise aneinandergekettet hat und jedes Glück zwischen ihnen unmöglich geworden ist.
Zumindest hatte Marina es so verstanden.
Sie legte das Buch weg. Ihre Augen wurden feucht.
Noch einen Schluck Wein. Dann noch einen.
Und wieder schweifte ihr Blick durch das Wohnzimmer des Hauses, das noch nicht wirklich ihres war. In dem sie sich einfach nicht zu Hause fühlen konnte.
Sie legte den Kopf in die Hände.
Die Worte der Frau am Morgen fielen ihr wieder ein: dass es nicht ewig so weitergehen könne, dass sie eine Entscheidung treffen müsse.
Die Midlake- CD lief immer noch, inzwischen sang Tim Smith davon, dass niemand sonst gut zu ihm sei, dass er niemand anderen finden könne und dass es schwer für ihn sei, aber dass er es trotzdem versuche.
Marina seufzte und trank noch einen Schluck.
Sie wusste nicht, wie lange sie es noch aushalten würde. Es stimmte, sie musste eine Entscheidung
Weitere Kostenlose Bücher