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Der Staubozean

Titel: Der Staubozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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daß sie nie richtig dazugehörte.«
    »Sie war ein Außenseiter«, sagte Desperandum unverblümt. »Sie war abstoßend. Keiner aus ihrem … äh … Stamm wollte sie berühren oder mit ihr reden. Sie war eine Paria.
    Dann kam die Expedition, Geschöpfe wie Götter in infektionssicheren Anzügen. Sie waren bereit zu reden. Sie waren bereit, ihre Ideen jedem mitzuteilen, der zuhören wollte. Also wurden sie in Fetzen zerrissen. Berufsrisiko.« Desperandum zuckte die Achseln. »Und so starben Dalusas Peiniger in schrecklichem Todeskampf, vergiftet vom Blut ihrer Opfer. Als die nächste Expedition kam, die unvermeidlich war, traf sie Dalusa vorbereitet. Und sie ging mit ihnen fort und legte sich unters Messer.«
    »Eine löbliche Entscheidung«, sagte ich.
    Desperandum runzelte die Stirn. »Es ist nicht klug, menschliche Maßstäbe an Fremde anzulegen, das weiß ich. Aber ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, daß Dalusa geistig nicht normal ist?«
    »Käpt'n, es gibt keine objektiven Maßstäbe, um geistige Gesundheit zu messen. Wie Sie selbst sagen, ist es absurd, menschliche Maßstäbe an sie anzulegen, und wenn sie nach ihren eigenen Maßstäben nicht normal wäre, kann ich leider nicht erkennen, welche Belastung das für mich haben sollte. Schließlich habe ich keine Vorstellung davon, was bei ihren Artgenossen als normal gilt. Aber nach dem, was Sie mir erzählt haben, scheinen sie ausgesprochen unerfreulich zu sein.«
    »Und wenn das, was ich Ihnen erzählt habe, etwas mit Blut zu tun hat?« fragte Desperandum. »Menschliches Blut, der Mittler ihres Heils. Und was, wenn ich Ihnen sage, daß Blut ihre Besessenheit ist, sogar ein sexueller Fetisch?«
    »Dann würde ich Sie fragen, Käpt'n, wo Sie Ihre Information herhaben?«
    Einige Sekunden war es still. »Ich glaube, das würde ich Ihnen dann nicht sagen«, sagte Desperandum schließlich.
    »Nun denn, um zu unserem früheren Gesprächsthema zurückzukehren: Ich möchte, daß Sie den jungen Murphig scharf im Auge behalten. Er wird das Schiff nicht plötzlich verlassen.
    Für einen nullaquanischen Walfänger ist das undenkbar. Aber er verhält sich in letzter Zeit merkwürdig. Manchmal träge, manchmal fast überdreht, als stände er unter dem Einfluß einer …« Ich hielt den Atem an, während Desperandum nach einem Wort suchte, » …einer Art religiöser Erregung. In einer Kultur wie der hiesigen muß man mit einem solchen Syndrom rechnen. Wenn es an Bord der Lunglance Unruhe gibt, wird Murphig vermutlich in ihrem Zentrum sein.«
    »Ich werde ihn beobachten, Käpt'n«, versprach ich.
    »Prima. Ach, übrigens, könnten Sie beim Hinausgehen die Reste vom Eßtisch abräumen?«
    »Käpt'n«, sagte ich sanft, »was ist mit meiner Frage?«
    In diesem Moment wußte ich mit Sicherheit, daß Desperandum ein alter Mann war. Ein bestürzter, fast erschreckter Ausdruck huschte über sein Gesicht, so wie ich ihn vorher schon beim alten Timon Hadji-Ali und bei den Undines gesehen hatte. Eine verzweifelte Suche unter den angehäuften Jahrhunderten der Erinnerung; Erinnerungen, die von einem unzulänglichen menschlichen Gehirn aufgestaut und verzerrt wurden.
    Aber Desperandum fand es schnell: »Dalusa. Sie ist in der Küche und wartet. Wartet auf Sie.«
    Ich stapelte das fettige Geschirr übereinander und zog meine Maske über. Dann trug ich es auf Deck, wo die Handwerker immer noch eifrig arbeiteten, und ging in die Küche.
    Es war dunkel. Mit dem Ellbogen drückte ich den Lichtschalter an und setzte das Geschirr auf die Anrichte.
    Dalusa saß auf dem Stuhl neben der Tür, die zum Vorratsraum führte. Sie hatte noch immer ihre Maske auf; ihre Hände waren von ihrem Hals verschränkt, und ihre Schwingen hingen wie schwarze Samttücher von ihren Armen.
    Ich schwang mich neben dem Geschirr auf die Anrichte und blickte ihr ins Gesicht. Ich nahm meine Maske ab. »Ich will mit dir reden, Dalusa. Willst du deine Maske nicht abnehmen?«
    Dalusa griff nach dem Elastikband hinten an ihrer Maske und streifte es langsam über ihren Kopf. Ihr Bemühen, die Situation zu dramatisieren, war so offensichtlich, daß ich ungeduldig wurde. Aber ich hielt mich zurück.
    Langsam hob sie die Maske vom Gesicht und hielt sie immer noch zwischen uns, so daß ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Dann ließ sie sie plötzlich sinken.
    Ich konnte spüren, wie das Blut aus meinem Gesicht wich; ich könnte schwören, daß ich fühlte, wie es durch Millionen Arterien in meinen Hals tropfte und entwich. Ich sah

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