Der Stein der Könige 1 - Quell der Finsternis
ihren Fäusten verschafften.
Evaristo hätte gut einer der gefürchteten Zauberer werden können, die als Strauchdiebe den Reisenden auflauerten, aber damals versuchte die Kirche von Vinnengael auf Anweisung von König Tamaros gerade, eine gewisse Ordnung unter jenen zu schaffen, die sich der Magie bedienten.
Dies stieß auf beträchtlichen Widerstand. Es gingen Gerüchte um, die Kirche plane, alle Zauberer zu verhaften und sie entweder dazu zu zwingen, sich der Kirche anzuschließen, oder ihnen die Ausübung ihrer Kunst zu verbieten. Viele Zauberer flohen ins Gebirge, andere – wie der sechzehnjährige Evaristo – waren zum Kampf bereit. Die Kirche, der damals die Ehrenwerteste Hohe Magierin Dominaa vorstand, handelte weise. Sie schickte ihre Priester mit dem Befehl aus, die begabten Zauberer weder zu verhaften noch einzuschüchtern, sondern alles in ihrer Macht Stehende zu tun und sie dazu zu verlocken, ihre Talente dem gewaltigen Reservoir an magischer Macht hinzuzufügen, das die Kirche hütete.
Evaristo, der von den Krümeln der Magie gelebt hatte, sah sich plötzlich einem Festessen gegenüber, erhielt einen Vorgeschmack wunderbarer Macht, die er sich nie hätte vorstellen können. Er war einer von Fünfen, die mit den Priestern nach Vinnengael reisten.
Man hätte vielleicht annehmen können, dass Evaristo sich nach seinem gefährlichen Leben in den Straßen von Delon Ren den Kriegsmagiern anschließen würde. Zunächst dachte er tatsächlich daran, aber dann entdeckte er die Bibliothek mit ihren Regalen voller Bücher und ihrer stillen, zeitlosen Atmosphäre. Seine Seele wollte dort verharren, und Evaristo erfüllte ihr diesen Wunsch. Man nahm ihn in den Orden des Wissens auf, und er bewährte sich dort derart, dass er rasch aufstieg und man schließlich davon sprach, dass er vielleicht eines Tages Bibliothekar – Oberster des Ordens – werden könnte.
Als er die Gelegenheit erhielt, Lehrer des jungen Prinzen zu werden, sah es so aus, als hätte er den schnellsten Weg zu seinem Ziel eingeschlagen. Aber nachdem er nun drei Jahre lang die Beleidigungen und die schlechten Manieren des Prinzen ertragen hatte, war Evaristo klar, dass ihm wohl irgendwo auf diesem Weg eine Abzweigung entgangen sein musste.
»Dagnarus ist ein intelligenter Junge. Er könnte durchaus leisten, was von ihm erwartet wird. Was für eine Verschwendung!«, sagte Evaristo verärgert zu seiner Frau, als sie beim Mittagessen saßen.
»Der arme Junge; es ist nicht seine Schuld. Es gibt streunende Hunde, die eine bessere Kindheit hatten«, erwiderte seine Frau und begann, den Lammbraten zu verteilen. Sie nahm es mit dem Kochen sehr genau und überließ es, im Gegensatz zu vielen anderen Hausfrauen, nie den Dienern.
»Die meiste Zeit erscheint er nicht einmal zum Unterricht«, fuhr Evaristo fort. »Und wenn er auftaucht – im Allgemeinen nur dann, wenn die Königin auf den Gedanken kommt, sich um die Bildung ihres Sohnes zu kümmern, was einmal in sechs Monaten geschieht –, dann ist er unhöflich zu mir. Er schnaubt, er tritt gegen den Tisch, er starrt aus dem Fenster, er kritzelt in die Bücher. Ich darf selbstverständlich niemals Hand an ihn legen. Außerdem denke ich, dass es auch nichts nützen würde, ihn zu schlagen. Dieses Lammfleisch ist hervorragend, meine Liebe.«
»Er ist anders als sein Bruder«, stellte die Frau fest.
»Nur zu wahr.« Evaristo seufzte und tunkte sein Brot in die Soße. »Kronprinz Helmos ist ein begabter Gelehrter, und das ist im Grunde ein Problem.« Er schaute zum Fenster hin, das auf die Straße hinausging, um sich zu überzeugen, dass niemand in Hörweite war, und beugte sich dann dicht zu seiner Frau hinüber und senkte die Stimme. »Die einzige Lektion, die Dagnarus bestens gelernt hat – eine Lektion, die er buchstäblich mit der Muttermilch aufsog –, besteht darin, seinen Halbbruder zu verachten und abzulehnen. Was Helmos ist, wird Dagnarus niemals sein – das hat das Kind bereits beschlossen.«
»Man sollte annehmen, sein Vater, der König – mögen die Götter ihn segnen –, würde sich mehr für den Jungen interessieren.«
»König Tamaros wacht früh auf und geht spät zu Bett, und dennoch bleibt seine Arbeit unvollendet«, meinte Evaristo. »Er ist ein weiser Mann und ein guter Herrscher; er hat der Welt Frieden und Vinnengael großen Wohlstand gebracht, aber nur die Götter sind vollkommen, meine Liebe. Nur die Götter können lieben, was der Liebe nicht würdig ist –
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