Der Stein der Könige 1 - Quell der Finsternis
dass der tote Elf zurückgekehrt war, um zu verlangen, dass der Junge seinen Mörder anklagte. Aber es war nur Evaristo, der sich auf die Suche nach seinem Schüler gemacht hatte.
Gareth stellte das Buch zurück ins Regal, stellte es wieder aufrecht hin – zumindest das konnte er tun, obwohl es das seiner Ansicht nach vielleicht nicht verdient hatte.
»Zeit zu gehen«, flüsterte Evaristo lautlos.
Gareth nickte, denn er hatte Hunger. Aber er war auch traurig, die Bibliothek verlassen zu müssen, und warf einen sehnsuchtsvollen Blick zurück, als er und sein Lehrer auf dem Flur lärmenden Menschen begegneten, denn er bedauerte es, die Stille und den Frieden hinter sich lassen zu müssen.
»Hat es dir gefallen?«, fragte Evaristo.
»Oh!«, war alles, was Gareth sagen konnte. Gefallen schien so ein banales und unangemessenes Wort. »Wann können wir wieder hingehen?«
»Vielleicht sollten wir das jetzt einmal in der Woche tun«, erwiderte Evaristo. Er sah, wie niedergeschlagen sein Schüler dreinschaute, und fügte hinzu: »Wir werden im Lauf der Woche eine Liste der Fragen aufstellen, die du hast, und dann kommen wir hierher, um sie zu beantworten. Ich werde dir helfen, die Bücher zu finden, die du dazu brauchst. Was war das für ein Buch, das du dir in der Abteilung für Magie angesehen hast?«
»Ich weiß es nicht«, meinte Gareth ausweichend. Er wollte nicht über das Buch sprechen, und es tat ihm Leid, es überhaupt aus dem Regal geholt zu haben. Seine Hände fühlten sich schmutzig an, der Staub klebte noch an seinen Fingern. »Ich konnte die Wörter lesen, aber sie ergaben irgendwie keinen Sinn.«
»Ja, ich erinnere mich daran, wie enttäuschend das sein kann. Auch ich konnte, als ich in deinem Alter war, schon so gut lesen wie ein Erwachsener. Aber die Bücher hatten nur für die Erwachsenen Bedeutung und nicht für mich. Man kann aus den Worten anderer Menschen nicht alles lernen, Gareth. Wissen entsteht durch Erfahrung, und die gewinnt man nur im Lauf von Jahren.
Du musst Geduld haben. Du wirst es schon noch lernen, vielleicht sogar zu viel. Genieße die Unschuld der Kindheit.« Gareth lächelte ein wenig sehnsüchtig und nickte nur.
Der Stein der Könige wird überreicht
Man nannte ihn den Kapitän der Kapitäne. Er war der Anführer der Orks, nicht nur ihr politisches, sondern auch ihr spirituelles Oberhaupt. Er war alt; die Schiffsglocken, die die Wachen anzeigen, hatten viele, viele Male für ihn geläutet; so oft, dass er nicht mehr mitzählte.
Alter war für Orks ohnehin nicht wichtig. Nur Menschen und Elfen machten sich die Mühe, ihre Jahre zu zählen, wie man Längen mit einem Knotenseil misst. Die Orks halten das für Unsinn. Die Kreisbewegung des Lebens ist für sie viel wichtiger als das unaufhörliche Auf- und Untergehen der Sonne. Geburt, Heranwachsen, Partnersuche, Kinder und schließlich das Alter, in dem man die Weisheit teilt. Das sind die einzigen Knoten, die zählen.
Einige Menschen glauben fälschlicherweise, dass Orks nicht altern, da niemand je ältere, geschwächte, gebrechliche Orks sieht – Orks, die alt geworden sind. Orks leben und sterben wie alle anderen Völker. Wenn ein Ork spürt, dass die Altersschwäche beginnt, baut er sich ein Floß, verabschiedet sich von Familie und Freunden und macht sich auf seine letzte große Seereise.
Die Leichen von Orks, die auf See oder an Land sterben, werden an Planken gebunden und dem Meer übergeben, wo die heiligen Leviathane dafür sorgen, dass die Orks ihr Ziel erreichen.
Kein Ork darf an Land begraben werden, und das ist ein Grund, weshalb Orks es vorziehen, in Sichtweite des Meeres oder doch zumindest eines großen Flusses zu leben, der ihre Toten zum Meer tragen wird.
Der Kapitän der Kapitäne befand sich im Alter der Weisheit, jenem Alter, in dem Orkfrauen keine Kinder mehr bekommen und deshalb selbst zur See fahren können, dem Alter, in dem Orkmänner das Kopfhaar verlieren und man ihnen daher das Vorrecht gewährt, sich einen Bart stehen zu lassen. Der Kapitän der Kapitäne hatte einen langen Vollbart, der ihm bis auf den massiven Brustkorb reichte und den er mit kleinen Muscheln und Perlen schmückte, die er ins Haar flocht.
Der Kapitän der Kapitäne war nach Vinnengael gekommen, um den Anteil des Steins der Könige abzuholen, der den Orks zustand, nicht weil er König Tamaros' Beschreibung der Kräfte des Steins glaubte – Menschen, selbst die Besten unter ihnen, waren notorische Lügner –, sondern weil er
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