Der Stein der Könige 1 - Quell der Finsternis
er vorhatte zu lernen. Gareth konnte sich nicht am Unterricht freuen, wenn der Prinz ihm gegenübersaß und schmollte und Gesichter zog und ans Tischbein trat.
Dagnarus sah sich im Spielzimmer vergeblich nach einer Beschäftigung um. Gareth seufzte noch einmal und beugte sich über einen Pergamentrest, griff nach der Feder und begann, die anmutigen Buchstaben des elfischen Alphabets zu üben. Seine Hand war zittrig, und dementsprechend sahen auch die Buchstaben aus. Evaristo würde sicher behaupten, seine Schreibkunst sei eine Schande, aber Gareth machte weiter und war bald so in seiner Arbeit versunken, dass er den Prinzen ganz vergaß. Als Dagnarus plötzlich direkt hinter ihm etwas sagte, war Gareth so erschrocken, dass ihm die Feder aus der Hand fiel und einen großen Fleck auf dem Pergament hinterließ.
»Es ist dieser verfluchte Stein, Fleck«, sagte Dagnarus. »Ich träume dauernd von ihm.«
»Was für ein Stein?«, fragte ihn Gareth und drehte sich um.
Dagnarus hatte sich über ihn gebeugt, die Hände so fest um die geschnitzte Rückenlehne des Stuhls gekrallt, dass seine Knöchel weiß aussahen.
»Der Stein der Könige, du Dummkopf«, fauchte Dagnarus. »Was sollte es wohl sonst für ein Stein sein? Ich träume von ihm, sobald ich einschlafe.« Er senkte die Stimme. »Und diese Träume sind sehr seltsam, Fleck.«
»Albträume?«, fragte Gareth. Er hatte Dagnarus nie so leidenschaftlich und verstört zugleich erlebt.
»Nein«, erwiderte der Prinz nach einem Augenblick des Zögerns. »Oder vielleicht doch. Verstörend.« Wieder hielt er inne. »Und aufregend.« Er setzte sich neben Gareth. »Ich mag die Träume nicht, Fleck. Sie machen mich… ruhelos. Ich kann nicht still sitzen. Ich denke immer, ich sollte etwas unternehmen, aber ich weiß nicht was. Diese Träume wollen etwas von mir, Fleck. Und ich kann es ihnen nicht geben. Zumindest glaube ich nicht, dass ich es kann, denn ich verstehe nicht, was der Stein will. Aber gleichzeitig – und das ist das Aufregende, Fleck – weiß ich, wenn ich dem Traum gebe, was er will, dann wird er mir etwas zurückgeben. Etwas Wunderbares. Aber immer, wenn ich glaube, jetzt habe ich es begriffen, dann wache ich auf, und dann möchte ich am liebsten auf etwas einschlagen.«
Gareth, der Dagnarus' Laune in den letzten Tagen hatte ertragen müssen, wusste nur zu gut, dass der Prinz nicht übertrieb. So sehr, dass er begann, sich zu fürchten. Er wollte nichts mehr davon hören und wünschte sich, Evaristo würde kommen, aber der Lehrer war spät dran, wahrscheinlich wegen des Regens.
In der Hoffnung, das Gespräch damit zu beenden, griff Gareth wieder nach seiner Feder, tauchte sie ins Tintenfass und übte weiter. Zu seinem Erstaunen riss ihm Dagnarus die Feder aus der Hand und zog sich den Pergamentrest heran.
»Sieh dir das mal an«, sagte er und zeichnete mit raschen, ungeduldigen Strichen, sodass die Tinte spritzte und der Federkiel fest über das Pergament kratzte. »Diese Idee ist mir während der Zeremonie gekommen. Ich stand daneben, als mein Vater bewirkte, dass der Stein der Könige in vier Stücke brach. Er hat nicht hingesehen, weil er damit beschäftigt war, den Göttern zu danken, aber ich habe hingesehen, Fleck, und das war es, was ich entdeckt habe.«
Dagnarus hatte vier Kreise gezeichnet, die vier Kreise, die für die vier Elemente standen. Aber er hatte sie nicht in gerader Linie gezeichnet, wie man es üblicherweise tat. Er hatte sie einander gegenübergestellt, jeweils einen in einer Himmelsrichtung. Und er hatte eine leere Stelle in der Mitte gelassen und stach nun mit der Feder so fest hinein, dass die Spitze abbrach.
»Das bin ich«, sagte er, warf die nutzlose Feder beiseite und zeigte mit einem tintenfleckigen Finger auf die Stelle. »Das bin ich, hier in der Mitte. Und weißt du was, Fleck?« Seine Stimme bebte vor Erregung. »Wenn du hier stehst, in der Mitte dieses Kreises« – er fuhr mit dem Finger zu einem der äußeren Mandalas –, »in dem, der für das Feuer steht, was würdest du sehen, wenn du dich umsiehst?«
Er musste sich seine Frage selbst beantworten, denn Gareth starrte nur die Zeichnung an und konnte nichts sagen.
»Du würdest nichts anderes sehen als den Kreis, der dich umgibt. Ebenso, wenn du inmitten der Luft oder der Erde oder des Wassers stündest. Aber wenn du hier stehst, in der Mitte aller vier Kreise, wo es leer ist, was siehst du dann? Jeden einzelnen Kreis! Und das Interessante daran ist – niemand, der
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