Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter
weg bringen?«
»Ja«, erwiderte Wolfram, und dann sagte er noch einmal nachdrücklicher: »Ja.«
»Gut«, meinte sie.
Wolfram fiel auf, dass etwas fehlte.
»Du hast dein Schwert fallen lassen, Mädchen«, sagte er und verlangsamte seinen Schritt. »Willst du zurückkehren und es holen?«
Ranessa schüttelte den Kopf. »Nein. Das Schwert ist zu schwer für mich. Es ist zu schwer zu tragen.«
Der offizielle Titel des adligen Elfs Garwina vom Hause Wyval lautete Schild des Göttlichen. Er war entweder der mächtigste Elf im Land Tromek oder der zweitmächtigste, je nachdem, wen man fragte. An diesem Morgen tat Garwina das Gleiche wie an jedem Morgen: Er kniete vorm Ahnenschrein in seinem Haus nieder.
Jeder Elfenhaushalt, von den üppig möblierten Palästen des Göttlichen bis zur bescheidensten Hütte seines demütigsten Untertanen, hatte einen solchen Schrein. Im Palast des Schilds war der Schrein riesig, teuer und kunstvoll. Ein Altar aus schwarz lackiertem Holz, eingelegt mit Elfenbein und mit Silber beschlagen, stand auf einem Podest in einer Nische mit Vorhängen aus wunderschöner Seide. Diese Seide, für eben diesen Zweck von nimoreanischen Handwerkern handgewebt und handgefärbt, zeigte das Hauswappen des Schilds – ein aufrecht stehender Drache mit einer Distel – in Goldfadenstickerei.
Auf dem Tisch lagen die Besitztümer, die der Ehrenwerte Ahnherr am meisten geschätzt hatte: seine Flöte, ein Satz geschnitzter Weinkelche aus Alabaster, ein silberner Krug, den er bei einer Plünderung aus dem Schloss eines vinnengaelischen Adligen mitgenommen hatte, und andere Trophäen und Erinnerungsstücke, darunter sein Schild und seine Schwerter. Hinter dem Tisch stand ein passender Stuhl. Hier ließ sich der Ehrenwerte Ahnherr beinahe jeden Tag nieder, um mit seinem Enkel zu sprechen.
Der Schild kniete am Rand des Podiums, entzündete die Kerzen und begann mit seinen Opferungen – süße Waffeln, mit Honig und Nüssen gefüllt. Diese Waffeln, die der ehrenwerte Ahn immer so gern gegessen hatte, hatte die Frau des Schilds persönlich gebacken und nicht irgendein Diener.
Der Ehrenwerte Ahnherr erschien, eine geisterhafte Gestalt wie Kerzenrauch, der angehaucht wird. Der Ahnherr war mit zweihundertsechzig Jahren an Wunden gestorben, die er in einem Kampf davongetragen hatte. Er trug eine Erinnerung an seine Rüstung, um furchterregender zu wirken. Das Haar des alten Elfs war silbergrau gewesen, als er starb, aber nun hatte es wieder das schimmernde Schwarz seiner Jugend. Sein Gesicht war schmal, hager und bleich und dem seines Enkels recht ähnlich – viele Angehörige des Hauses Wyval sahen so aus. Die beiden waren sich auch vom Wesen her sehr ähnlich. Beide waren ernst, unversöhnlich, stolz und unnachgiebig. Und zuvor hatten sie immer auf der gleichen Seite gestanden.
Das war nun nicht mehr der Fall.
Der Ehrenwerte Ahnherr probierte die Waffeln nicht. Seine geisterhafte Hand griff nicht nach der Flöte, wie sie es sonst so häufig tat, weil er sich an das Gefühl erinnerte, selbst wenn er den Gegenstand nun nicht mehr wirklich berühren konnte. Er schaute auch nicht zu den Schwertern hin, obwohl der Schild befohlen hatte, sie neu zu schleifen und zu polieren. Die Arme vor der Brust verschränkt, starrte der Geist wütend seinen Enkel an.
»Wirst du mir wohl zuhören?«
»Ich werde zuhören, Großvater«, antwortete der Schild mit einer respektvollen Verbeugung.
»Du hörst mir zu, aber du hörst nicht auf mich«, erklärte der Ehrenwerte Ahnherr höhnisch.
Der Schild war verärgert. »Großvater – «
»Das genügt! Hör mir zu. Ich habe wichtige Neuigkeiten. Dieser Dagnarus, der sich selbst König von Dunkarga nennt, ist tatsächlich Dagnarus, Sohn des alten König Tamaros.«
Die Miene des Schilds wurde eisig. »Du glaubst wohl, du könntest dir auf meine Kosten einen Spaß machen, Großvater. Dieser Dagnarus starb beim Fall von Alt-Vinnengael – «
»Er ist nicht gestorben«, erklärte der Ehrenwerte Ahnherr. »Er verlängerte sein Leben durch die Macht der Magie der Leere. Er überlebt dank der Leben anderer, die er stiehlt, und daher existiert er immer noch. Er ist eine Abscheulichkeit, eine Ausgeburt des Bösen. Und mit einem solchen Geschöpf willst du dich verbünden! Es ist schon schlimm genug, dass es ein Mensch ist. Aber er ist ein Mensch, der Magie benutzt, um sein verfluchtes Leben zu verlängern.«
»Er ist außerdem ein Mensch, der die Gelegenheit hat, Neu-Vinnengael zu
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