Der Stein der Könige 3 - Die Pforten der Dunkelheit
besaß ein Herrenhaus – ein Menschenherrenhaus im Menschenland –, und er freute sich schon darauf, dieses Haus als Besitzer zu betreten und den Verwalter und die Dienstboten mit der Nachricht, dass sie nun einen Zwerg zum Herrn hatten, zu erstaunen und zu entsetzen.
Er sagte sich jeden Tag, dass er am nächsten Morgen aufbrechen würde. Jeden Tag fand er eine neue Ausrede, noch zu bleiben. Wochen vergingen, und der Zwerg trieb sich immer noch auf dem Drachenberg herum. Die Wahrheit war, dass Ranessa lernte, ein Drache zu sein, und das fiel ihr nicht leicht. Wolfram wollte sie nicht allein lassen.
Er wusste nicht, weshalb es ihn noch überraschte, dass sie Schwierigkeiten hatte. Ranessa war auch als Mensch nicht gerade ein überwältigender Erfolg gewesen. Sie hatte ihre ganze Familie und den Trevinici-Stamm, in den sie hineingeboren worden war, gegen sich aufgebracht. Danach war es ihr gelungen, beinahe jede einzelne Person zu beleidigen, der sie auf ihrer Reise begegnet war. Sicher, man musste zugeben, dass es einige Entschuldigungen für ihre feindselige Haltung gab. Ranessa hatte sich ihr ganzes Leben lang für eine Menschenfrau gehalten (und es gehasst) und erst jetzt in einem einzigen überwältigenden und katastrophalen Augenblick entdeckt, dass sie sich geirrt hatte. Sie war ein Drache.
Nachdem er sich selbst von dem Schock erholt hatte (und das hatte mehrerer Krüge von dem guten nussbraunen Bier der Mönche bedurft), hatte Wolfram gehofft, dass die Entdeckung ihres wahren Wesens Ranessa von einer gereizten, unvernünftigen und halb wahnsinnigen Menschenfrau zu einem entspannten und liebenswerten Drachen machen würde. Aber Ranessa war immer noch gereizt und unvernünftig. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie als Mensch ihre scharfe Zunge benutzt hatte, um einem den Kopf abzureißen. Nun hatte sie auch die dazu passenden scharfen Zähne.
Ranessas Drachenmutter Feuer versicherte Wolfram, dass Ranessas Verhalten vollkommen normal war. Alle frisch »geschlüpften« jungen Drachen hatten ähnliche Schwierigkeiten damit, sich an ihre neue Gestalt zu gewöhnen und an die neue Weise, sich selbst und die Welt zu betrachten.
»Nach der ersten Begeisterung darüber, dass er ein solches Wesen ist, ist der junge Drache verwirrt und verstört. Ranessa ist nun vielleicht zornig und fühlt sich verraten, und es fällt ihr schwer, sich an ein so vollkommen neues Leben zu gewöhnen. Das Verhalten ist dem von gerade pferdelos gewordenen Zwergen nicht unähnlich«, fügte Feuer kühl hinzu.
Da Wolfram selbst ein Pferdeloser war, verstand er genau, was sie damit meinte, aber er tat so, als sei das nicht der Fall. »Das kommt mir alles ziemlich umständlich vor«, erklärte er. »Und unnatürlich. Warum zieht ihr Drachen eure Kinder nicht selbst auf, statt sie armen Menschen unterzuschieben, die nicht ahnen, wie ihnen geschieht? Kinder aufzuziehen ist niemals leicht, mit all dem Geschrei und Gespucke und den schmutzigen Windeln, aber wir machen es trotzdem. Wir kämen nicht auf die Idee, unsere Kinder zum Beispiel euch unterzuschieben. Nichts für ungut.«
»Schon gut, Wolfram«, erwiderte Feuer, und er stellte erleichtert fest, dass sie amüsiert und nicht wütend war.
Feuer, eine Gestaltwandlerin, hatte wieder Zwergengestalt angenommen, und sie ging nun neben ihm her, wie es eine echte Zwergenfrau tun würde. Da sie jedoch jeden Augenblick ihre Drachengestalt annehmen konnte, wollte Wolfram sie auf keinen Fall gegen sich aufbringen.
Die beiden schlenderten durch einen der Gärten, welche das Kloster umgaben. Fünf Drachen bewachten das Kloster und sorgten dafür, dass den Mönchen nichts zustieß. Vier dieser Drachen vertraten die Elemente der Welt: Feuer, Wasser, Erde und Luft. Der fünfte Drache stellte die Abwesenheit der Elemente dar, die Leere.
Die Völker von Loerem wussten, dass das Kloster von Drachen beschützt wurde, aber nur wenige wussten, dass die Drachen auch die Oberhäupter des Klosters waren, denn sie verwandelten sich in Mönche, wenn sie mit Außenstehenden zu tun hatten. Wolfram hatte die Wahrheit ganz zufällig entdeckt, als er, ohne es zu wollen, Zeuge von Feuers Verwandlung von einer Zwergenfrau in einen wunderbaren roten Drachen geworden war.
Lügen, alles nur Lügen. Ein Haufen Lügen, dachte Wolfram empört. Nicht dass er nicht mitunter selbst gelogen hätte. Eine Lüge oder zwei waren hin und wieder ganz nützlich. Aber das hier war nicht das Gleiche. Diese Lügen
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