Der Stein der Wikinger
Ruders. Jetzt verstand er alles: Weil er wie Kolfinns Vater als Schiffbrüchiger auf die Schafsinseln zugetrieben war, glaubte dieser, dass die Götter im Spiel seien. Sie hätten ihn geschickt, um seine Tochter zu heiraten. Nur er war es wert, eine Familie mit der starken Gunnhild zu gründen und sein Erbe auf den Schafsinseln weiterzuführen. Kolfinn hatte keine Söhne, bloß Gunnhild.
»Du siehst nachdenklich aus, Hakon«, sagte Nafni.
Hakon bemühte sich um ein Lächeln. »Ich dachte an meine alte Heimat«, log er, »ich musste alles hinter mir lassen, was mir lieb und teuer war. Aber ich bereue nichts. Ich habe kein Verbrechen begangen und kann guten Mutes in die Zukunft sehen.« Er griff nach dem Krug, den einer der anderen Männer ihm reichte, und nahm einen ausgiebigen Schluck. »Auf die Zukunft, Nafni!«
6
Der Bau des Schiffes ging zügig voran. Nafni hatte fähige Männer um sich geschart, die den Ehrgeiz hatten, eines der besten und stabilsten Frachtschiffe der Schafsinseln zu bauen, und deshalb besonders gewissenhaft und angestrengt arbeiteten. Hakon zeigte sich geschickt im Umgang mit der breiten Axt und erwarb sich die Anerkennung des Schiffsbauers und des Jarls.
Schon nach wenigen Tagen strotzte er wieder vor Kraft und Gesundheit. Vergessen waren die gefahrvollen Stunden im Meer. Er spürte deutlich, wie ihn die abwechslungsreiche Arbeit stark machte und ihm das Gefühl gab, auch gegen die mächtigsten Feinde bestehen zu können. Denn die hatte er, nicht nur Ivar, seinen jähzornigen Onkel, der wie ein Sturmwind über das Meer kommen würde. Auch Folkmar, den glühenden Verehrer von Gunnhild, der geschworen hatte, ihn ins Totenreich von Hel zu schicken.
Doch was bedeutete die Aussicht auf die schweren Kämpfe gegen das freudige Gefühl, das er empfand, wenn er an die junge Frau aus dem Buch dachte! Er brauchte nur die Augen zu schließen, um ihr Gesicht zu sehen. Er war sicher, dass sie von ihm wusste und ähnlich empfand wie er. Wenn Odin beschlossen hatte, sie miteinander zu vermählen, hatte er auch ihr ein Bild gezeigt. Doch war der Gott auch bereit, ihn in das fremde Land zu führen, in dem sie lebte?
Der einäugige Gott hatte den Weg zu der unbekannten Schönheit sicher mit zahlreichen Hindernissen gepflastert. Niemand, selbst ein Gott nicht, erreichte sein Ziel, ohne kämpfen zu müssen. Kein Nordmann konnte auf die Hilfe eines mitleidigen Gottes zählen, wenn er um die Liebe einer Frau stritt. Er würde selbst sehen müssen, wie er heil von der Insel kam und das geheimnisvolle Buch wiederfand.
Hakon ließ die Axt sinken und schöpfte Wasser aus dem Holzfass, das für die Schiffsbauer bereitstand. Mit der Kelle an den Lippen hielt er inne. Oben auf den Klippen hatte er eine Bewegung wahrgenommen. Einen Schatten nur, doch gleich darauf leuchtete rotblondes Haar in der schräg stehenden Sonne, und Folkmar zeigte sich, das Schwert wie zum tödlichen Schlag erhoben.
»Hakon von Eisland!«, rief er. Seine Stimme brach sich als vielfaches Echo in den dunklen Schluchten. »Ich warte auf dich! Wo bleibst du, Hakon?«
Das Gehämmer hinter Hakon verstummte, und die Blicke aller Männer wanderten zum Klippenrand empor. Folkmar trug ein leuchtend rotes Wams und erhob das Schwert wie ein furchtloser Mann. Seine wirren Haare flatterten verwegen im Wind. Er war ein Mann, auf den selbst eine Häuptlingstochter stolz gewesen wäre, doch Kolfinn vertraute den Göttern, die ihm Hakon geschickt hatten, damit er sein Schwiegersohn werde. So glaubte Kolfinn und so glaubten es alle Bewohner der Insel. In ihrer Vorstellung gehörte der Kampf gegen Folkmar zu dem Plan, den sich die Götter für Hakon ausgedacht hatten. Nur wenn er sein Können als tapferer Krieger unter Beweis stellte, war er es wert, die Tochter eines Jarls zu ehelichen. Wer wusste schon, dass Hakon nichts lieber gewollt hätte, als sie einem anderen zu überlassen und zu verschwinden?
»Ich habe keine Angst vor dir, Folkmar!«, rief er dennoch.
»Dann nimm dir ein Schwert und kämpfe!«
»Ich komme«, erwiderte Hakon entschlossen. »Sobald die Sonne aufgeht, werde ich auf die Klippen steigen und das Schwert gegen dich führen!«
»Ich werde dort sein«, rief Folkmar.
Hakon arbeitete an diesem Nachmittag noch angestrengter als sonst und erweckte den Eindruck, als würde ihn der bevorstehende Kampf kaum aus der Ruhe bringen. Doch er war nervöser, als es den Anschein hatte. Er war bei einem Raubzug dabei gewesen, hatte etliche Feinde
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