Der steinerne Engel
Iras abgelegten Socken.
In der Holzkiste neben Jimmys Bett befanden sich die übrigen milden Gaben, die er von Darlene Wooley erhalten hatte: T-Shirts, Jeans, ein Sweatshirt und eine Baumwolljacke, alles in verwaschenem Rot und Blau. Jimmy war jetzt ein reicher Mann. Vor seinem Bett standen Schuhe, die ihm wie angegossen passten.
Auf der rauen Oberfläche der Kiste standen eine Dose Sodawasser, eine Packung Donuts und eine Lampe ohne Schirm. Die nackte Glühbirne wärmte seinen Nacken wie eine freundliche Hand, und diese Illusion menschlicher Nähe war ein zusätzlicher Luxus in seinem Leben.
Früher hatte das kleine Zimmer als Lagerraum für Bücher gedient, jetzt war es sein Zuhause. Mit siebzehn von den Eltern verstoßen, hatte er sich zum Schlafen zu den Betrunkenen in Owltown auf die Straße gelegt, bis ihn in einer kalten Nacht - es ging schon auf den Winter zu - der Sheriff dort aufgegabelt und ihm diese Unterkunft besorgt hatte. Seit dreizehn Jahren lebte er hier relativ glücklich und zufrieden. Die ersten Handlangerdienste hatte er für Augusta Trebec verrichtet, und Tom Jessop hatte ihm weitere Arbeit verschafft. Das allwissende Auge von Miss Augustas Dachfenster und die barsche Fürsorge des Sheriffs waren für Jimmy eine Art distanzierter, aber verlässlicher Elternersatz gewesen.
Im Hauptraum der Bibliothek läutete das Telefon. Jimmy reagierte nicht. Wahrscheinlich hatte sich jemand verwählt. Das kam abends, wenn die Bibliothek geschlossen hatte, häufiger vor. Als Halbwüchsiger war er jedes Mal hingegangen, weil er gedacht hatte, es sei seine Mutter.
Doch die hatte nie angerufen.
Wenn er sich ganz schrecklich nach ihr sehnte, stand er hin und wieder unangemeldet vor ihrer Tür. Dann holte sie ihn schnell ins Haus, damit die Nachbarn ihn nicht sahen und es womöglich seinem Vater erzählten. Im Haus gab es eine heiße Suppe oder eine warme Mahlzeit, sie wusch seine Sachen und gab ihm viel zu große neue Klamotten mit. Und Verpflegung in einer Tüte - so wie früher seine Pausenbrote für die Schule. Alles so, wie es sich für eine Mutter gehört. Doch wenn er weg war, vergaß sie ihn wieder. Sie rief nie an. Und deshalb ging er jetzt in der Bibliothek nicht mehr ans Telefon.
Er wandte sich wieder seinem Buch zu. Aber das Läuten war so beharrlich, dass er sich entschloss, den Hörer abzunehmen. Weil der Hauptraum der Bibliothek ungeheizt war, zog er Iras Baumwolljacke über, ehe er aus dem Bett stieg und zur Anmeldung ging, wo das Telefon stand.
Durch die undichten Fenster wehte der Wind. Jimmy spürte den kalten Atem des großen Raums auf Gesicht und Nacken.
Das Gebälk des hundert Jahre alten Hauses knarzte, und hinter den Wänden hörte er Mäuse rascheln.
Jimmy blieb, den Blick auf die dunklen Bücherreihen in den Regalen gerichtet, vor dem klingelnden Apparat stehen. Der Scheinwerferkegel eines vorbeifahrenden Autos streifte den Globus, sodass er einen kindergroßen Schatten warf. Jimmy sah rasch weg und nahm den Hörer ab. Ehe er auflegen und damit die Verbindung unterbrechen konnte, hörte er eine Frauenstimme sagen: »Jimmy?« Er machte große Augen. »Junge, bist du das?«, fragte die Stimme.
Er drückte den Hörer zärtlich ans Ohr. »Mom?«
»Nein, Jimmy. Hier ist Augusta Trebec.«
»Ja, Ma'am.«
»Ich hab einen Job für dich, aber er muss heute Nacht noch erledigt werden. Dauert höchstens eine Stunde. Ich zahle zehn Dollar. Wär dir das recht?«
»Ja, Ma'am, zehn Dollar sind in Ordnung.« Er konnte das Geld gut gebrauchen.
Jimmy sah aus dem Fenster, das auf die Dayborn Avenue hinausging. Die Straßenlaterne hatte einen dunstigen Hof. Keine Nacht zum Spazierengehen, zumal er entschlossen war, einen großen Bogen um den Friedhof zu machen. Es tat ihm Leid um die neuen Schuhe. Die Ausweichroute führte über morastigen Boden, und die alten Schuhe seines Vaters hatte er weggeworfen.
»Soll ich nicht lieber morgen früh kommen, Ma'am? Sobald es hell wird ...«
»Das nützt mir nichts, Jimmy. Es ist eine Sache, die heute Nacht gemacht werden muss, hast du verstanden?«
»Ja, Ma'am.«
»Es ist ziemlich neblig draußen. Am besten hol ich dich an der Brücke ab. Ich kenne sämtliche Schlaglöcher auf unserer Straße und werde aufpassen, dass du nicht reinfällst.«
Miss Augusta würde es sehr übel nehmen, wenn er sie in einer kalten Nacht warten ließ, deshalb beeilte sich Jimmy, so rasch wie möglich die Brücke über den Upland Bayou zu erreichen. Er sah im Nebel nur
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