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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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ein paar Meter weit und orientierte sich an den vertrauten Gegenständen, die er auf diese kurze Entfernung ausmachen konnte: Telefonmasten, Hydranten, Straßenlaternen und die Fenster von Häusern, hinter denen gelbes Licht brannte. Als er zum Upland Bayou kam, hatte der Nebel das ganze andere Ufer geschluckt.
    Miss Augusta wartete bereits an der Brücke auf ihn. Ihr blasses Gesicht schwebte über einem langen dunklen Schal. Sie nickte ihm zu, und beide überquerten schweigend die Brücke. Für müßiges Geschwätz hatten sie nichts übrig.
    Sie führte ihn, wie versprochen, getreulich um die mit Regenwasser gefüllten Schlaglöcher. Durch die Bäume sah er mattes Licht schimmern. Der Engel hatte demnach immer noch Besucher, obwohl es, wie er erst am Vormittag erfahren hatte, auf dem Friedhof keine langen Schlangen mehr gab. Das Wunder hatte seinen Reiz verloren.
    Als sie den Friedhof betraten, war der Bodennebel so dicht, dass er nicht einmal mehr seine Schuhe sehen konnte. Sein Blick wanderte kurz zum Grabmal von Cass Shelley hinüber, aber außer der Rückseite der Engelsflügel und den Votivkerzen auf dem Sockel konnte er nichts erkennen.
    Miss Augusta war schon ein Stück weiter, und er fürchtete, sie im Nebel zu verlieren, wenn sie um eine Ecke bog.
    Trotzdem - einmal musste er noch hinsehen.
    Die Flügel der Figur plusterten sich auf wie die eines lebendigen Vogels. Natürlich wusste er genau, dass es nur eine Einbildung war, die das flackernde Licht der Kerzen verursachte - aber zwischen Wissen und Glauben ist für einen, der in Dunkelheit und Nebel steht, ein himmelweiter Unterschied.
    Atemlos rannte Jimmy hinter Miss Augusta her. Plötzlich hörte er einen Laut, als wenn Stein auf Stein scharrte. Er drehte sich um. Hatte sich die Steinfigur bewegt? Unsinn, er sah sie jetzt nur aus einem anderen Blickwinkel. Die großen ausgebreiteten Schwingen verbargen nach wie vor ihren Körper.
    Er starrte wieder auf den Weg. Die alte Dame war offenbar auf einen anderen Weg dieser Totenstadt abgebogen und nicht mehr zu sehen.
    »Miss Augusta?«
    Hinter ihm fiel etwas Schweres zu Boden. Er spürte den Aufprall unter seinen Schuhsohlen, aber um nichts in der Welt hätte er sich in diesem Moment umgedreht. Jetzt bewegte sich seitlich von ihm etwas, aber er mochte - nein, er konnte sich nicht umsehen. Trost suchend blickte er zu dem Engel hinüber, der Cass so ähnlich sah.
    Der Sockel war leer. Er schaute den Weg entlang. Miss Augusta war offenbar umgekehrt, um ihn zu holen. Sie stand so weit weg, dass er sie nicht mehr scharf erkennen konnte. Es musste an dem Nebel liegen, dass sie plötzlich so viel kleiner wirkte.
    »Miss Augusta?«
    »Jimmy!«, rief eine Frauenstimme. Er spürte eine Hand auf seiner Schulter, und die Knie wurden ihm weich. Dann war die Hand fort. Er rannte auf die verschwommene Gestalt von Augusta Trebec zu - und blieb so unvermittelt stehen, dass der Kies hoch aufspritzte. Stocksteif stand er da - wie ein Tier, das im Lichtschein eines näher kommenden Zuges gefangen ist. Was da vor ihm stand, war ein kleinerer Engel, war das Kind, das die Engelsfigur aus den Armen verloren hatte. Nur mit dem Unterschied, dass dem Kind inzwischen Flügel gewachsen waren.
    Auf schweren steinernen Füßen bewegte sich das kleine Mädchen auf ihn zu. An den Händen war Blut, ebenso an den Steinen, die sie im Arm trug.
    Jetzt blieb sie stehen und erhob sich langsam in die Lüfte. Er sah die Füßchen über dem Bodennebel schweben und fiel auf die Knie. Das Kind kam wie schwerelos auf ihn zu, dabei hatte es doch an den vielen Steinen bestimmt schwer zu schleppen.
    »Ich hab nichts gemacht«, sagte er. Das war gelogen. Und das war dem steinernen Kind natürlich bekannt, denn es hatte sich seine Sünden gewiss genau gemerkt.
    »Cass wollte es weitersagen.« Er breitete bittend die Hände aus. »Allen wollte sie es sagen.«
    Das Kind schwebte wie lauschend nah über dem Boden. Er schlug die Hände vors Gesicht. »Es tut mir Leid. Es tut mir so Leid.«
    »Jimmy!«, rief die Kleine mit leiser, sanfter Stimme. »Jimmy.«
    Er nahm die Hände vom Gesicht und schlug die Augen auf.
    Langsam drehte sich das steinerne Kind in der Luft um die eigene Achse. Dabei fielen die Steine in einer spiralförmigen Bewegung und ohne einen Laut aus ihren Armen zu Boden. Das Kind drehte sich schneller, immer schneller - und Jimmy schrie.
    Die Drehbewegung wurde langsamer, dann verharrte die Kleine regungslos in der Luft.
    Er faltete die Hände wie

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